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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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allein, so voller Angst, aber auch so stark, so überaus unnachgiebig stark. »Rowan«, flüsterte er. »Rowan.«
    Er fühlte, wie sie seufzend nachgab, einer gebrochenen Blume gleich, und mit dem wachsenden Verlangen verschwand aller Schmerz in ihr.
     
    Er lag auf dem Teppich, den Kopf auf den linken Ellbogen gestützt; die rechte Hand hielt lässig eine Zigarette über den Aschenbecher, und neben ihm stand eine dampfende Tasse Kaffee. Inzwischen mußte es neun Uhr sein. Er hatte die Fluggesellschaft angerufen. Sie konnten ihm einen Platz in der Mittagsmaschine besorgen.
    Stundenlang hatten sie miteinander geredet, nachdem sie sich zum zweitenmal geliebt hatten.
    Sie hatten leise, ohne Hast, ohne emotionale Höhepunkte, über ihr Leben gesprochen. Sie hatte ihm von ihrer Kindheit in Tiburon erzählt, wo sie beinahe jeden Tag ihres Lebens mit dem Boot hinausgefahren war, und von den guten Schulen, die sie besucht hatte. Sie hatte ihm mehr aus ihrem leben als Medizinerin erzählt, von ihrer frühen Liebe zur Forschung und von den wilden, schrecklichen Träumen, die sie quälten und in denen es um eine Wissenschaft ging, die vor keiner Abscheulichkeit zurückschreckte. Dann war ihr Talent im Operationssaal entdeckt worden. Zweifellos war sie eine unglaublich gute Chirurgin. Sie hatte es nicht nötig, damit zu prahlen; sie beschrieb es einfach: die Erregung, die unmittelbare Genugtuung, und wie sie seit dem Tod ihrer Eltern, der Verzweiflung nahe, nur noch ans Operieren denken konnte, nur noch durch die Stationen wanderte, nur noch arbeitete.
    Er hatte ihr kurz und ein wenig abschätzig von seiner eigenen Welt erzählt, und ihr sichtliches Interesse, die vielen Fragen, die sie stellte, hatten sein Herz erwärmt. »Arbeiterklasse«, hatte er gesagt. Wie neugierig sie gewesen war. Wie war es dort unten im Süden? Er hatte von den großen Familien erzählt, den pompösen Beerdigungen, dem kleinen Reihenhaus mit dem Linoleumboden, den Jalapen im briefmarkengroßen Garten. War es ihr wunderlich vorgekommen? Ein wenig kam es ihm selbst so vor, obgleich ihn die Erinnerung schmerzte, so sehr sehnte er sich danach, nach Hause zu kommen. »Es sind nicht nur die Visionen und das alles. Ich will wieder dorthin. Ich will wieder durch die Annunciation Street spazieren…«
    »Ist das der Name der Straße, in der du großgeworden bist? Das klingt so schön.«
    Er erzählte ihr nicht von dem Unkraut in der Gosse, von den Männern, die mit ihren Bierdosen draußen auf der Treppe gesessen hatten, von dem Geruch nach gekochtem Kohl, den man nie loswurde, von den Zügen, die am Ufer entlang donnerten, daß die Fensterscheiben klapperten.
    Über sein Leben hier zu sprechen, war ein wenig leichter gewesen – von Elizabeth und Judith zu erzählen, von der Abtreibung, die sein Leben mit Judith zerstört hatte; von den letzten paar Jahren mit ihrer seltsamen Leere und dem Gefühl, auf etwas zu warten, ohne zu wissen, auf was. Er erzählte von Häusern und von seiner Liebe zu ihnen; von den großartigen Queen-Anne- und Italianato-Häusern in San Francisco; von der Frühstückspension auf der Union Street, die er so gern betrieben hätte; und dann war er unversehens dazu übergegangen, von den Häusern zu reden, die er wirklich liebte: von den Häusern unten in New Orleans. Er verstand etwas vom Wesen dieser Häuser, denn Häuser waren mehr als nur Behausungen. Sie konnten einem die Seele stehlen.
    Von so vielem hatten sie gesprochen, und jetzt lag er auf dem Teppich und dachte daran, wie gern er sie hatte und wie sehr ihn ihre Traurigkeit und ihre Einsamkeit beunruhigten, und wie sehr es ihm zuwider war, sie zu verlassen, und daß er nichtsdestoweniger wegfahren mußte.
    Sein Kopf war bemerkenswert klar. So lange war er den ganzen Sommer über nicht mehr ohne einen Drink geblieben. Und das Gefühl, klar zu denken, gefiel ihm. Sie hatte ihm eben frischen Kaffee eingeschenkt, und er schmeckte gut. Die Handschuhe hatte er wieder angezogen, denn er bekam dauernd beliebige, dumme Bilder von allem, was er berührte – Graham, Ellie und Männer, viele verschiedene Männer, gutaussehende Männer, und allesamt Rowans Männer, das war mehr als deutlich. Er wünschte, es wäre anders gewesen.
    Die Sonne brannte im Osten durch die Fenster. Er hörte Rowan in der Küche rumoren. Eigentlich, dachte er, sollte er aufstehen und ihr helfen, ganz gleich, was sie dazu sagte; aber sie hatte sich ziemlich überzeugend dagegen ausgesprochen: »Ich koche gern; es

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