Hexenstunde
ist wie beim Operieren. Bleib du nur genau da, wo du bist.«
Sie war das erste in all den Wochen, dachte er, was ihm wirklich etwas bedeutete, was ihn von dem Unfall und von sich selbst ablenkte. Und es war eine solche Erleichterung, an jemand anderen als an sich selbst zu denken. Ja, wenn er es sich recht überlegte, dann hatte er sich sehr gut konzentrieren können, seit er hier war, auf ihre Gespräche und auf den Sex und auf ihr ganzes Wesen. Das war etwas ganz und gar Neues für ihn, denn in all den Wochen hatte ihn seine mangelhafte Konzentration – die Unfähigkeit, mehr als eine Seite in einem Buch zu lesen oder mehr als ein paar Augenblicke lang einem Film zu folgen – in beständige Erregung versetzt. Es war ebenso schlimm gewesen wie der permanente Schlafmangel.
Er erkannte, daß er noch niemals jemanden in solchem Tempo kennengelernt hatte, daß er noch niemals so schnell so tief gedrungen war. Es war wie das, was beim Sex passieren sollte, aber selten, wenn überhaupt, wirklich passierte. Aber wie konnte er fortfahren, sie kennenzulernen, sie vielleicht sogar zu lieben, und sich gleichzeitig um diese andere Sache kümmern, die er erledigen mußte? Denn eins war ihm klar: Er mußte immer noch nach Hause fahren und feststellen, was seine Aufgabe war.
Er mußte fort, und er wollte nicht. Und es machte ihn plötzlich so traurig, traurig und beinahe verzweifelt, als seien sie irgend wie verdammt, er und sie.
All die Wochen – wenn er sie nur hätte sehen, wenn er nur hätte bei ihr sein können. Und dann kam ihm eine ganz seltsame Idee. Wenn doch dieser gräßliche Unfall gar nicht erst passiert wäre und er sie an einem ganz gewöhnlichen Ort unter ganz gewöhnlichen Umständen kennengelernt hätte! Aber dies alles gehörte irgend wie zusammen, und ihre Seltsamkeit und ihre Stärke waren ein Teil davon. Ganz allein da draußen auf diesem großen, gräßlichen Kreuzer, just in dem Augenblick, als es dunkel wurde. Wer, zum Teufel, wäre sonst dagewesen? Wer, zum Teufel, sonst hätte ihn aus dem Wasser ziehen können? Ja, es war leicht zu glauben, was sie über ihre Entschlossenheit gesagt hatte, über ihre Fähigkeiten.
Als sie ihm die Rettungsaktion etwas detaillierter geschildert hatte, da hatte sie etwas Seltsames gesagt. Sie hatte gesagt, ein Mensch verliere in sehr kaltem Wasser beinahe sofort das Bewußtsein. Aber sie war hineingesprungen, und sie hatte das Bewußtsein nicht verloren. Und sie hatte nur gesagt: »Wie ich die Leiter erreicht habe, weiß ich nicht. Ehrlich nicht.«
»Glaubst du, es war diese Macht?« hatte er gefragt.
Sie hatte einen Moment nachgedacht. »Ja und nein«, hatte sie dann gesagt. »Ich meine, vielleicht war es bloß Glück.«
»Na, für mich war es jedenfalls Glück«, hatte er geantwortet und dabei ein außergewöhnliches Wohlgefühl empfunden; warum, das hätte er nicht genau sagen können.
Vielleicht wußte sie es, denn sie hatte gesagt: »Wir haben Angst vor dem, was uns anders sein läßt.« Und er hatte ihr zugestimmt.
»Aber viele Menschen haben solche Fähigkeiten«, sagte sie. »Wir wissen nicht, was sie sind oder wie man sie einordnen soll; aber sie sind zweifellos ein Teil dessen, was sich zwischen Menschen abspielt. Ich sehe es im Krankenhaus. Da gibt es Ärzte, die bestimmte Dinge wissen, und sie können dir nicht sagen, woher. Und es gibt Schwestern, denen es ähnlich geht. Ich könnte mir vorstellen, daß es Rechtsanwälte gibt, die unfehlbar wissen, wenn ein Klient schuldig ist oder daß die Geschworenen für oder gegen ihn stimmen werden; und sie können dir nicht sagen, woher sie das wissen.
Tatsache ist: Bei allem, was wir über uns lernen, bei allem, was wir klassifizieren und definieren, bleiben die Geheimnisse unermeßlich. Nimm nur die Genforschung. So vieles erbt ein menschliches Wesen – Schüchternheit ist erblich, die Vorliebe für eine bestimmte Seifenmarke kann erblich sein oder die Vorliebe für bestimmte Vornamen. Aber was erbt man sonst noch? Was für unsichtbare Kräfte übernimmt man von seinen Vorfahren? Deshalb finde ich es so frustrierend, daß ich meine Familie eigentlich nicht kenne. Ich weiß nicht das geringste über sie. Ellie war eine Großcousine dritten Grades. Ja, verflixt, das kann man ja kaum noch als Cousine bezeichnen…«
Ja, er hatte all dem beigepflichtet. Er hatte ein bißchen von seinem Vater und von seinem Großvater erzählt, und daß er mit den beiden mehr Ähnlichkeit habe, als er gern zugebe. »Aber man
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