Hexenstunde
werde warten, bis Rowan kommt. Rowan möchte nämlich kommen, wissen Sie. Sie möchte ihre Familie sehen. Das muß es sein, was hinter all dem steckt.«
»Und der Mann? Was, glauben Sie, hat er mit all dem zu tun?«
Michael verstummte. Er saß da und starrte Lightner an. »Haben Sie den Mann gesehen?« fragte er.
»Nein. Das hat er nicht zugelassen. Er wollte, daß Sie ihn sehen. Und ich wüßte gern, warum.«
»Aber Sie wissen über ihn Bescheid, wie?«
»Ja.«
»Okay, jetzt sind Sie an der Reihe, und ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie gleich anfangen würden.«
»Ja, so haben wir es abgemacht«, sagte Lightner. »Und ich finde es jetzt wichtiger denn je, daß Sie alles wissen.« Er stand auf, ging langsam hinüber zu dem Tisch und begann, die Papiere einzusammeln, die überall verstreut lagen. Sorgfältig legte er sie alle in eine große Ledermappe. »Und alles ist in dieser Akte.«
»Hören Sie, Lightner, Sie schulden mir ein paar Antworten«, sagte Michael.
»Dies ist ein Kompendium von Antworten, Michael. Es kommt aus unseren Archiven. Es befaßt sich ausschließlich mit der Familie Mayfair, und es reicht zurück bis in das Jahr 1664. Aber Sie müssen Nachsicht mit mir haben: Ich kann es Ihnen hier nicht zum Lesen geben.«
»Wo dann?«
»Wir haben eine Art Klause hier in der Nähe. Ein altes Plantagengebäude. Sehr hübsch.«
»Nein!« antwortete Michael ungeduldig.
Lightner machte eine beschwichtigende Gebärde. »Es ist keine anderthalb Stunden von hier. Ich muß darauf bestehen, daß Sie sich anziehen und mitkommen und daß Sie die Akte in Ruhe und Frieden in Oak Haven lesen und sich alle Fragen aufsparen, bis Sie es getan haben. Wenn Sie diese Akte gelesen haben, werden Sie begreifen, weshalb ich Sie bitte, den Anruf bei Dr. Mayfair hinauszuschieben. Und ich denke, Sie werden froh sein, daß Sie es getan haben.«
»Rowan sollte diese Akte auch sehen.«
»Das sollte sie in der Tat. Und wenn Sie bereit wären, sie ihr für uns in die Hände zu legen, wären wir Ihnen wirklich außerordentlich dankbar.«
Michael musterte den Mann. Er versuchte, sich seinem Charme zu entziehen und über seine Worte in Ruhe nachzudenken. Einerseits fühlte er sich zu Lightner hingezogen und durch sein Wissen beruhigt, andererseits war er mißtrauisch. Vor allem aber sah er mit machtvoller Faszination, wie die Steinchen des Puzzles sich zusammenfügten.
»Ich kann nicht mit Ihnen aufs Land fahren«, sagte er schließlich. »Ich habe nicht den geringsten Zweifel daran, daß Sie aufrichtig sind. Aber ich muß Rowan anrufen, und ich möchte, daß Sie mir Ihr Material hier überlassen.«
»Michael, das Material enthält Informationen zu allem, was Sie mir erzählt haben. Aber ich gebe es nur zu meinen Bedingungen aus der Hand.«
»Sie würden mir nichts vormachen?«
»Nein. Natürlich nicht. Aber machen Sie sich auch selbst nichts vor, Michael. Sie haben immer gewußt, daß der Mann nicht das war… was er zu sein schien. Nicht wahr? Was haben Sie gestern abend gespürt, als Sie ihn sahen?«
»Jaaa, ich habe es gewußt…«, flüsterte Michael. Wieder fühlte er diese Orientierungslosigkeit. Aber ein dunkler, verstörender Schauer durchrieselte ihn. Er sah den Mann, wie er durch den Zaun auf ihn herabspähte. »O Gott«, flüsterte er. Und ehe er sich versah, geschah etwas völlig Überraschendes. Er hob die rechte Hand und schlug schnell und reflexartig ein Kreuz.
Verlegen sah er Lightner an.
Dann kam ihm ein glasklarer Gedanke, und seine Erregung wuchs. »Könnten sie etwa gewollt haben, daß ich Ihnen begegne? Die Frau mit den schwarzen Haaren – könnte sie gewollt haben, daß diese Begegnung zwischen Ihnen und mir stattfindet?«
»Das können nur Sie beurteilen. Nur Sie wissen, was diese Wesen zu Ihnen gesagt haben. Nur Sie wissen, wer sie wirklich waren.«
»Gott, aber ich weiß es nicht.« Michael legte beide Hände an den Kopf. Er merkte, daß er auf die Ledermappe starrte. Es war eine englische Inschrift darauf. Große Lettern, goldgeprägt, aber halb verschlissen. »›Die Mayfair-Hexen‹«, wisperte er. »Steht das wirklich da?«
»Ja. Würden Sie sich jetzt bitte anziehen und mitkommen? Man wird uns auf dem Land ein Frühstück bereitstellen. Bitte.«
»Sie glauben doch nicht an Hexen!« sagte Michael. Aber sie kamen erneut. Und wieder verblaßte das Zimmer. Wieder klang Lightners Stimme fern, waren seine Worte ohne Bedeutung, nur schwache, unaufdringliche Laute, die von weither kamen. Michael
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