Hexenstunde
komme mit Ihnen. Ich will diese Akte lesen. Ganz. Aber ich will so schnell wie möglich wieder hier sein. Ich hinterlasse ihr eine Nachricht, daß ich bald zurück bin, falls sie anrufen sollte. Sie bedeutet mir etwas. Sie bedeutet mir mehr, als Sie ahnen. Und das hat nichts mit den Visionen zu tun. Es hat damit zu tun, daß sie ist, was sie ist und daß… mir so viel an ihr liegt. Nur das zählt, und sonst nichts.«
»Nicht einmal die Visionen?« fragte Lightner respektvoll.
»Nein. Zwei-, vielleicht dreimal im Leben fühlt man für jemanden, wie ich für Rowan fühle. So etwas bringt eigene Prioritäten, eigene Aufgaben mit sich.«
»Das verstehe ich«, sagte Lightner. »Gut. Ich erwarte Sie in zwanzig Minuten unten. Und ich würde mich freuen, wenn Sie mich von jetzt an Aaron nennen würden – falls Sie wollen. Wir haben zusammen einiges vor uns. Ich fürchte, ich bin schon vor einer Weile darauf verfallen, Sie Michael zu nennen. Aber ich möchte, daß wir Freunde werden.«
Michael duschte, rasierte sich und zog sich an; nach weniger als einer Viertelstunde war er fertig. Bis auf ein paar notwendige Kleinigkeiten packte er seine Sachen aus. Und erst, als er jetzt seinen Koffer nahm, sah er, daß die Signallampe an seinem Telephon neben dem Bett immer noch blinkte. Wieso um alles in der Welt hatte er nicht gleich darauf reagiert, als er es gesehen hatte? Es machte ihn plötzlich wütend.
Sofort rief er die Rezeption an.
»Ja. Eine Dr. Mayfair hat für Sie angerufen, Mr. Curry, und zwar heute früh gegen Viertel nach fünf.« Und die Frau gab ihm Rowans Nummer. »Sie bestand darauf, daß wir den Anruf durchstellen und daß wir bei Ihnen an die Tür klopften.«
»Und das haben Sie getan?«
»Jawohl, Mr. Curry. Aber Sie haben sich nicht gemeldet.«
Und mein Freund Aaron war die ganze Zeit hier, dachte Michael wütend.
»Wir wollten nicht mit dem Nachschlüssel in Ihr Zimmer eindringen.«
»Das ist schon in Ordnung. Hören Sie, ich möchte eine Nachricht für Dr. Mayfair hinterlassen, falls sie noch einmal anruft.«
»Ja, Mr. Curry?«
»Daß ich gut angekommen bin und daß ich sie in vierundzwanzig Stunden anrufen werde. Daß ich jetzt fort muß, aber bald zurück komme.«
Er legte einen Fünf-Dollar-Schein für das Zimmermädchen auf die Bettdecke und ging hinaus.
Im kleinen, engen Foyer herrschte Hochbetrieb, als er hinunterkam. Im Coffeeshop war es voll und laut. Lightner, der den dunklen Tweed gegen einen makellosen Baumwollkrepp ausgetauscht hatte, stand an der Tür und sah aus wie ein Südstaaten-Gentleman der alten Schule.
»Sie hätten ans Telephon gehen können, als es klingelte«, sagte Michael. Er fügte nicht hinzu, daß Lightner aussehe wie einer jener alten, weißhaarigen Männer, an die er sich von früher erinnerte und die abends ihren Spaziergang durch den Garden District und die Avenue hinauf zu machen pflegten.
»Ich dachte, dazu sei ich nicht berechtigt«, sagte Lightner höflich. Er hielt Michael die Tür auf und deutete auf den grauen Wagen – eine überlange Limousine -, der am Randstein parkte. »Außerdem befürchtete ich, es könnte Dr. Mayfair sein.«
»Na, sie war es auch«, sagte Michael. Er stieg ein und setzte sich auf den Rücksitz.
»Aha«, sagte Lightner. »Aber Sie haben sie nicht zurück gerufen.« Er nahm neben Michael Platz.
»Abgemacht ist abgemacht«, sagte Michael seufzend. »Aber es gefällt mir nicht. Ich habe versucht, Ihnen klarzumachen, wie es zwischen mir und Rowan steht. Wissen Sie, als ich zwanzig war, da wäre es mir unmöglich gewesen, mich an einem einzigen Abend in eine Frau zu verlieben. Aber jetzt bin ich Ende vierzig, und ich bin entweder dümmer als je zuvor, oder ich weiß endlich genug. Ich kann die Situation einschätzen, sozusagen, und sehe es, wenn jemand so gut wie vollkommen ist. Verstehen Sie, was ich meine?«
»Ich glaube ja.«
Der Wagen war ziemlich alt, aber sehr angenehm mit seinen gutgepflegten grauen Lederpolstern und dem kleinen Kühlschrank in der Ecke. Für Michaels lange Beine war reichlich Platz. Allzu schnell huschte die St. Charles Avenue an den getönten Scheiben vorbei.
»Mr. Curry, ich achte Ihre Gefühle für Rowan, wenngleich ich gestehen muß, daß ich ebenso überrascht wie fasziniert bin. Oh, verstehen Sie mich nicht falsch. Die Frau ist in jeder Hinsicht außergewöhnlich: eine unvergleichliche Chirurgin und ein wunderschönes junges Geschöpf von ganz erstaunlichem Auftreten. Ich weiß das. Aber ich
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