Hexenstunde
auf ihrer Veranda sitzen zu sehen, wann immer ich vorbeikam.«
Rowan war erstaunt.
»Sagen Sie mir eines, wenn es Ihnen nichts ausmacht«, bat Rowan. »Das Haus, in dem sie wohnte, ist in der First Street?«
»Ja, Ma’am.«
»Heißt die Gegend etwa Garden District?«
»Jawohl, Ma’am, so heißt sie.«
Rowan bedankte sich murmelnd und legte auf. Es ist also die Gegend, die Michael mir beschrieben hat, dachte sie. Und wie kommt es, daß sie alle Bescheid wissen? Ich habe der Frau nicht mal gesagt, wie meine Mutter hieß…
Aber sie sollte jetzt aufbrechen. Sie ging auf die Nordveranda hinaus und vergewisserte sich, daß die Sweet Christine auch für das schlechteste Wetter sicher vertäut war. Dann schloß sie das Ruderhaus ab und ging wieder ins Haus.
Zeit für einen letzten Blick durch alle Räume.
Das Haus war wie eine Sache, die sie abgelegt, verbraucht hatte. Und als sie zur Sweet Christine hinausschaute, erging es ihr damit genauso.
Es war, als habe das Boot ihr gute Dienste geleistet und sei nun nicht mehr wichtig. All die Männer, mit denen sie in der Kabine unter Deck geschlafen hatte, waren nun nicht mehr wichtig. Ja, eigentlich war es ganz bemerkenswert, daß sie Michael nicht über die kleine Leiter hinunter in die gemütliche Wärme der Kabine mitgenommen hatte. Es war ihr gar nicht in den Sinn gekommen. Michael gehörte zu einer anderen Welt.
Sie hatte plötzlich das starke Bedürfnis, die Sweet Christine zu versenken, und mit ihr alle Erinnerungen, die sich daran knüpften. Aber das war töricht. Immerhin hatte die Sweet Christine sie zu Michael geführt. Anscheinend verlor sie allmählich den Verstand.
Gottlob fuhr sie jetzt nach New Orleans. Gottlob würde sie ihre Mutter vor der Beerdigung noch einmal sehen, und gottlob würde sie bald mit Michael Zusammen sein, ihm alles erzählen, ihn bei sich haben. Sie mußte einfach glauben, daß es so sein würde, ganz gleich, warum er nicht angerufen hatte. Sie dachte verbittert an das Dokument in ihrem Safe. Aber auch das war jetzt nicht mehr wichtig; es lohnte sich nicht einmal mehr, zum Safe zu gehen, um es noch einmal anzusehen oder zu zerreißen.
Sie schloß die Tür, ohne sich noch einmal umzuschauen.
Zweiter Teil
___________________________________
Die
Mayfair-Hexen
13
DIE AKTE ÜBER DIE MAYFAIR-HEXEN
Vorwort des Übersetzers für die Teile l bis IV:
Die ersten vier Teile dieser Akte enthalten Material, das Petyr van Abel eigens für die Talamasca verfaßt hat – auf Lateinisch und vorwiegend in unserem Code, einer Form des Lateinischen, die die Talamasca vom vierzehnten bis zum achtzehnten Jahrhundert verwendet hat, um Briefe und Tagebücher vor neugierigen Augen zu schützen. Stefan Franck stand seinerzeit an der Spitze des Ordens, und der größte Teil des folgenden Materials ist an ihn adressiert; der Stil ist locker, vertraulich und gelegentlich informell. Gleichwohl war Petyr van Abel sich stets bewußt, daß er für die Nachwelt schrieb, und er achtete daher mit großer Sorgfalt darauf, dem zwangsläufig uninformierten Leser alles zu erläutern und zu erklären. Aus diesem Grunde mag es vorkommen, daß er etwa eine Gracht in Amsterdam beschreibt, obwohl sein Bericht an einen Mann gerichtet ist, der an eben dieser Gracht wohnt.
Wenn Petyrs Weltsicht für seine Zeit überraschend »existentialistisch« erscheint, möge man nur noch einmal bei Shakespeare nachlesen – der fast fünfundsiebzig Jahre früher schrieb -, um zu erkennen, wie durch und durch atheistisch, ironisch und existentialistisch geprägt die Denker jener Zeit waren. Das gleiche läßt sich über Petyrs Einstellung zur Sexualität sagen. Die machtvolle Repression des neunzehnten Jahrhunderts läßt uns manchmal vergessen, daß man im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert in fleischlichen Dingen sehr viel liberaler war.
Was Petyr van Abels vollständigen Bericht angeht – für sich betrachtet eine durchaus beachtliche Geschichte -, so ist er in der Akte unter seinem Namen enthalten; er besteht aus siebzehn Bänden, die alle komplett übersetzt und chronologisch angeordnet wurden.
Wir besitzen zwei verschiedene Porträts von ihm, die in Amsterdam gemalt wurden, das eine von Frans Hals, ausdrücklich für Roemer Franz bestimmt, den Leiter unseres Ordens in jener Periode; es zeigt Petyr als hochgewachsenen, hellhaarigen Jüngling – beinahe nordisch in seiner Größe und Blondheit – mit ovalem Gesicht, vorstechender Nase,
Weitere Kostenlose Bücher