Hexenstunde
hoher Stirn und großen, forschenden Augen. Das andere ist etwa zwanzig Jahre älter und stammt von Thomas de Keyser; es zeigt ein kräftigeres, volleres, wenngleich immer noch auffällig schmales Antlitz mit sauber gestutztem Bart und langem, lockigem Blondhaar unter einem breitrandigen schwarzen Hut. Auf beiden Bildern erscheint Petyr entspannt und beinahe fröhlich, wie es für die Männer auf den zeitgenössischen niederländischen Porträtgemälden typisch war.
Petyr gehörte der Talamasca seit seiner Kindheit an, bis er im Alter von dreiundvierzig Jahren in Erfüllung seiner Pflicht starb – wie aus dem vorliegenden, seinem letzten vollständigen, Bericht an die Talamasca hervor gehen wird.
Als Gedankenleser verfügte er nur über beschränkte Fähigkeiten (er bekennt indessen, daß er in der Verwendung dieses Talents kein Fachmann sei, da er ihm Mißfallen und Argwohn entgegenbringe), und er besaß das Vermögen, durch die Kraft seines Willens kleine Gegenstände zu bewegen, Uhren anzuhalten und andere »Tricks« zu vollbringen.
Als umherstreunendes Waisenkind in den Straßen von Amsterdam kam er mit acht Jahren zur Talamasca. Man erzählt, er habe sehr früh begriffen, daß das Mutterhaus für Menschenseelen, die »anders« waren, so wie er anders war, Schutz und Obdach bot, und so trieb er sich dort herum, schlief in einer Winternacht auf der Türschwelle ein und wäre vielleicht erfroren, hätte Roemer Franz ihn nicht gefunden und hereingeholt. Später stellte man fest, daß er gebildet war, sowohl Lateinisch als auch Holländisch lesen und schreiben konnte und Französisch verstand.
Sein Leben lang hatte er nur sporadische und unzuverlässige Erinnerungen an seine frühe Kindheit in der Obhut seiner Eltern, wenngleich er versuchte, Licht in das Dunkel seiner Herkunft zu bringen, und dabei nicht nur die Identität seines Vaters Jan van Abel – eines berühmten Leidener Chirurgen -, sondern auch umfangreiche Schriften dieses Mannes entdeckte, die ein paar der berühmtesten anatomischen und medizinischen Illustrationen jener Zeit enthielten. Petyr hat oft gesagt, der Orden sei ihm Vater und Mutter geworden. Ein treueres Mitglied hat es nie gegeben.
Aaron Lightner
Die Talamasca, London 1954
DIE MAYFAIR-HEXEN
Teil I/Transkript eins
der Schriften des Petyr van Abel
für die Talamasca
1689
September 1689, Montcleve, Frankreich
Lieber Stefan,
endlich bin ich nun in Montcleve am Rande der Cevennen angekommen – genau gesagt, in den Ausläufern dieser Bergregion -, und die grimmige kleine Festungsstadt mit ihren Ziegeldächern und tristen Bastionen ist in der Tat bereit für die Verbrennung einer großen Hexe, wie man es mir berichtet hat.
Es ist Frühherbst hier, und der Wind aus dem Tal ist frisch, vielleicht mit einem Hauch der Hitze des Mittelmeers versehen, und vor den Toren bietet sich ein höchst erquicklicher Blick auf die Weinberge, wo der heimische Wein, der »Blanquette des Limoux«, angebaut wird.
Da ich am ersten Abend mehr als genug davon getrunken habe, kann ich bezeugen, daß er gerade so gut ist, wie diese armen Städter behaupten.
Aber du weißt, Stefan, ich liebe diese Region nicht, denn in den Bergen hallen noch immer die Schreie der ermordeten Katharer, die hier vor Jahrhunderten in so großer Zahl verbrannt wurden. Wie viele Jahrhunderte müssen vergehen, ehe das Blut so vieler tief genug in die Erde gesickert ist, daß man es vergessen kann?
Die Talamasca wird sich immer erinnern. Wir, die wir in einer Welt von Büchern und bröckelndem Pergament leben, von flackernden Kerzen und brennenden Augen, blinzelnd in der Dunkelheit – wir haben die Hand immerfort auf der Geschichte. Für uns ist sie jetzt. Und ich entsinne mich – ja, lange bevor ich auch nur das Wort Talamasca gehört habe -, wie mein Vater von diesen ermordeten Häretikern sprach und von den Lügen, die man wider sie verbreitete. Denn auch er hatte viel über sie gelesen.
Doch ach, was hat das zu tun mit der Tragödie der Comtesse de Montcleve, die morgen auf dem Scheiterhaufen vor dem Portal der Kathedrale von Saint-Michel sterben soll? Sie ist ganz aus Stein, diese alte Festungsstadt; die Herzen ihrer Bewohner sind es nicht, und doch kann nichts die Hinrichtung dieser armen Dame verhindern, wie ich zeigen werde.
Das Herz tut mir weh, Stefan. Ich bin mehr als hilflos, denn ich werde bedrängt von Offenbarungen und Erinnerungen. Und ich habe eine ganz verwunderliche Geschichte zu
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