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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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Zehenspitzen vor dem Kamin. Die Tür zu einem angrenzenden Badezimmer war offen.
    »Hier ziehe ich ein«, sagte Michael. »Wo ist die Akte?«
    »Aber wir sollten erst essen.«
    »Sie sollten. Ich kann mir ein Sandwich besorgen und essen, während ich lese. Bitte, Sie haben’s mir versprochen. Die Akte.«
    Aber Aaron bestand darauf, unverzüglich auf die kleine, mit Fliegengittern versehene Veranda an der Rückseite des ersten Stocks hinauszugehen, wo man einen Blick auf einen formell angelegten Ziergarten mit Kieswegen und verwitterten Springbrunnen hatte, und hier setzten sie sich zum Essen. Es gab ein mächtiges Südstaaten-Frühstück mit Biskuits, Grits und Würstchen sowie reichlich Zichorien – Café au lait.
    Michael hatte einen Bärenhunger. Und wieder hatte er das Gefühl, das er schon bei Rowan verspürt hatte: Es tat gut, nicht vom Alkohol benebelt zu sein. Es tat gut, einen klaren Kopf zu haben und in den grünen Garten hinaus zuschauen, wo die Äste der Eichen bis auf den Rasen hinunter reichten. Es war ein göttliches Gefühl, die warme Luft wieder zu spüren.
    »Es ist alles so schnell gegangen«, sagte Aaron und reichte ihm den Korb mit den dampfenden Biskuits. »Ich habe das Gefühl, ich sollte noch mehr sagen, aber ich weiß nicht, was ich noch sagen könnte. Wir hatten ja vor, uns Ihnen langsam zu nähern, damit wir Sie und Sie uns kennenlernen könnten. Ich wollte Sie in unser Mutterhaus nach London einladen, und dort hätte man Sie langsam und behutsam in unseren Orden einführen können. Selbst nach jahrelanger praktischer Arbeit hätte man Sie nicht aufgefordert, eine so gefahrvolle Aufgabe wie die Intervention, die Ihnen bevorsteht, zu übernehmen. Abgesehen von mir ist niemand im ganzen Orden für eine solche Aufgabe überhaupt qualifiziert. Aber nun sind Sie involviert, um es mit einem schlichten modernen Ausdruck zu sagen.«
    »Und zwar bis an die Kiemen«, ergänzte Michael; er aß mit Genuß weiter, während er zuhörte. »Aber ich verstehe, was Sie sagen wollen. Es ist, als wollte mich die katholische Kirche an einem Exorzismus teilnehmen lassen, obwohl sie weiß, daß ich nicht mal die Priesterweihe habe.«
    »Ganz recht«, sagte Lightner. »Manchmal denke ich, daß wir gerade, weil wir so undogmatisch und fern aller Rituale sind, um so stringenter sind. Unsere Definition von Recht und Unrecht ist subtiler, und wir zürnen denen heftiger, die sich nicht daran halten.«
    »Aaron, hören Sie, ich werde keiner Menschenseele in der ganzen weiten Welt von dieser Akte erzählen – außer Rowan. Einverstanden?«
    Aaron dachte einen Augenblick lang nach. »Michael«, sagte er dann, »wenn Sie das Material gelesen haben, sollten wir uns eingehender darüber unterhalten, was Sie weiter tun sollen. Jetzt warten Sie, bevor Sie nein sagen. Lassen Sie sich zumindest darauf ein, sich meinen Rat anzuhören.«
    »Sie haben Angst vor Rowan, stimmt’s?«
    Aaron nahm einen Schluck Kaffee und starrte auf seinen Teller. Er hatte nur ein halbes Biskuit gegessen. »Ich bin nicht sicher«, antwortete er. »Mein einziges Zusammentreffen mit Rowan war äußerst merkwürdig. Ich hätte schwören mögen…«
    »Was?«
    »Daß sie sich verzweifelt wünschte, mit mir zu reden. Mit irgend jemandem zu reden. Und gleichzeitig spürte ich eine gewisse, fast übermenschliche Feindseligkeit in ihr gegenüber anderen Menschen. Ich spürte förmlich, daß sie anders war.«
    »Ich will die Akte«, sagte Michael. Er wischte sich mit der Serviette den Mund ab und trank seinen Kaffee aus.
    »Natürlich, und Sie sollen sie bekommen.« Aaron seufzte.
    »Kann ich jetzt auf mein Zimmer gehen? Ach, und wenn es möglich wäre, daß ich noch eine Kanne von diesem herrlichen, starken schwarzen Kaffee und heiße Milch bekomme…«
    »Selbstverständlich.« Aaron führte Michael nach vorn in sein Zimmer und bestellte unterwegs den zweiten Kaffee.
    Die dunklen Damastvorhänge vor den vorderen Fenstern waren geöffnet worden, und durch alle Scheiben schien sanftes Sommerlicht, das durch die Bäume hereinsickerte.
    Der Aktenkoffer mit der klobigen Akte in ihrer Ledermappe lag auf der Bettdecke. »Alsdann, mein Freund«, sagte Aaron. »Man wird Ihnen den Kaffee bringen, ohne zu klopfen, um Sie nicht zu stören. Setzen Sie sich vorn auf die Galerie hinaus, wenn Sie mögen. Und bitte lesen Sie sorgfältig. Da ist das Telephon, falls Sie mich brauchen. Rufen Sie die Zentrale an und verlangen Sie Aaron. Ich bin in meinem Zimmer unten am Gang,

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