Hexenstunde
lächerlich, ich will hier raus, ich, du hättest mich anrufen sollen.
»Fahr nach Hause, Schatz«, sagte er.
Am Tag darauf verließ er das Krankenhaus.
Die nächsten drei Wochen waren eine einzige Qual. Zwei Männer von der Küstenwache riefen ihn an, auch ein Rettungswagenfahrer, aber sie hatten eigentlich nichts zu erzählen, was ihm weitergeholfen hätte. Was seine Lebensretterin auf dem Boot anging, so wollte die Frau mit der Sache nichts zu tun haben. Und Dr. Morris hatte ihr versprochen, daß man sie in Ruhe lassen würde. Unterdessen gab die Küstenwache der Presse gegenüber zu, daß man versäumt habe, den Namen des Bootes oder seine Kennummer zu den Akten zu nehmen. Eine der Zeitungen sprach von einer hochseetüchtigen Yacht. Vielleicht war sie inzwischen am anderen Ende der Welt.
Michael begriff jetzt, daß er seine Geschichte zu vielen Leuten erzählt hatte. Jede Illustrierte im ganzen Land wollte mit ihm sprechen. Er konnte nirgendwo hingehen, ohne daß sich ihm ein Reporter in den Weg stellte und irgendein Wildfremder ihm eine Brieftasche oder ein Photo in die Hand drückte, und das Telephon hörte auch nicht mehr auf zu klingeln. Die Post türmte sich vor der Tür, aber obwohl er immer wieder seinen Koffer zur Abreise packte, brachte er es nicht über sich, zu fahren. Statt dessen trank er – eiskaltes Bier von morgens bis abends, und Bourbon, wenn das Bier ihn nicht mehr betäubte.
Seine Freunde versuchten loyal zu bleiben. Sie wechselten sich ab, sprachen mit ihm, bemühten sich, ihn zu beruhigen, ihn von der Trinkerei abzubringen, aber es nutzte nichts. Stacy las ihm sogar vor, weil er selbst nicht lesen konnte. Er strapazierte sie alle, und er wußte es.
Tatsache war, daß es in seinem Hirn brodelte. Er versuchte, Klarheit in das Ganze zu bringen. Wenn er sich schon nicht erinnern konnte, so konnte er doch wenigstens versuchen alles zu verstehen. Aber er wußte, er schwafelte immer nur weiter und weiter über »das Leben« und »den Tod«, über das, was »da draußen« geschehen war, über die Schranken zwischen Leben und Tod, und wie sie immer mehr zerfielen in unserer modernen Welt. War das noch keinem aufgefallen? Man brauchte doch nur die Filme anzusehen, und die Romane zu lesen, um zu wissen, was da vor sich ging. Die Kunst war doch immer der Seismograph der Gesellschaft gewesen.
Beispielsweise Die Frau in Weiß, wo das tote kleine Mädchen im Zimmer des kleinen Jungen erschien, oder Julia, wo Mia Farrow von dem toten Kind in London heimgesucht wurde.
»Michael, du bist betrunken.«
»Und es sind nicht nur die Horrorfilme, seht ihr. Es geschieht auch anderswo. Nehmt das Buch The White Hotel – hat das einer gelesen? Nun, es geht nach dem Tod der Heldin weiter, hinein ins Leben nach dem Tode. Ich sage euch, da wird etwas passieren. Die Barriere bricht ein; ich habe ja selbst mit den Toten gesprochen und bin zurück gekommen, und irgendwo im unserem Unterbewußtsein wissen wir alle, daß die Barriere einbricht.«
»Michael, du mußt dich beruhigen. Diese Sache mit deinen Händen…«
»Ich will darüber nicht reden.« Aber betrunken war er, das mußte er zugeben, und er gedachte, betrunken zu bleiben. Er war gern betrunken. Er griff zum Telephonhörer, um einen neuen Kasten Bier zu bestellen. Unnötig, daß Tante Viv wegen irgend etwas hinausging. Und dann war da noch der ganze Glenlivet Scotch, den er gehortet hatte. Und noch mehr Jack Daniel’s. Oh, er konnte betrunken bleiben bis ans Ende seiner Tage. Kein Problem.
Telephonisch machte er schließlich die Firma zu. Als er zu arbeiten versucht hatte, hatten seine Leute ihm deutlich zu verstehen gegeben, er solle nach Hause gehen. Bei seinem unaufhörlichen Gerede brachten sie nichts zustande. Er sprang von einem Thema zum anderen. Und dann stand wieder ein Reporter da und forderte ihn auf, sein Talent zu demonstrieren. Und noch etwas anderes plagte ihn, was er noch niemandem anvertraut hatte: Er empfing jetzt unbestimmte emotionale Eindrücke von Leuten, ob er sie berührte oder nicht.
Es war anscheinend eine gewisse freischwebende Art von Telepathie, und es gab keine Handschuhe, mit denen sie abzuschalten gewesen wäre. Es waren keine Informationen, die er empfing; es war lediglich ein starker Eindruck von Zuneigung, Abneigung, Echtheit oder Falschheit. Manchmal war er davon so gefangen, daß er nur die Lippenbewegungen der Leute sah. Ihre Worte hörte er überhaupt nicht.
Diese ständige ungewollte Nähe zu anderen Personen
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