Hexenstunde
machte ihn nur noch einsamer.
Er ließ seine Aufträge sausen, gab innerhalb eines Nachmittags alles weiter, sorgte dafür, daß seine Leute Arbeit fanden, und schloß dann seinen kleinen Laden auf der Castro, wo er antike viktorianische Armaturen verkaufte.
Jetzt war es okay, im Haus zu bleiben, sich hinzulegen, die Vorhänge zuzuziehen und zu trinken. Tante Vivian sang in der Küche, während sie seine Mahlzeiten zubereitete, die er nicht essen wollte. Ab und zu versuchte er, ein bißchen in David Copperfield zu lesen, um seinen eigenen Gedanken zu entrinnen. In den schlimmsten Augenblicken seines Lebens hatte er sich immer in einen entlegenen Winkel der Welt zurückgezogen und David Copperfield gelesen. Es war einfacher und leichter als Große Erwartungen, sein wahres Lieblingsbuch. Aber er vermochte dem Buch jetzt nur noch zu folgen, weil er es praktisch auswendig kannte.
Therese fuhr zu Besuch zu ihrem Bruder nach Südkalifornien. Eine Lüge, wie er wußte, obgleich er das Telephon nicht angerührt, sondern nur ihre Stimme über den Anrufbeantworter gehört hatte. Prima. Wiedersehen.
Als seine alte Freundin Elizabeth aus New York anrief, redete er auf sie ein, bis er tatsächlich bewußtlos war. Am nächsten Morgen sagte sie ihm, er müsse sich um psychiatrische Hilfe bemühen. Sie drohte, alles stehen und liegen zu lassen und herüber zufliegen, wenn er es ihr nicht verspräche. Er versprach es ihr. Aber es war gelogen.
Er wollte sich niemandem anvertrauen. Er wollte die neue Intensität seiner Gefühlswelt nicht beschreiben. Und schon gar nicht wollte er über seine Hände reden. Nur über die Visionen wollte er sprechen, und davon wollte niemand mehr etwas hören, niemand wollte hören, wie er davon redete, daß der Vorhang zerreiße, der die Lebenden von den Toten trenne.
Wenn Tante Viv zu Bett gegangen war, experimentierte er ein kleines bißchen mit der Kraft in seinen Händen. Aber er mochte das Gefühl nicht, und auch die Bilder nicht, die ihm durch den Kopf zuckten. Und wenn es einen Grund gab, weshalb er diese Empfindsamkeit verliehen bekommen hatte, so war dieser Grund zusammen mit den Visionen und dem Auftrag, der mit seiner Rückkehr ins Leben verbunden gewesen war, vergessen.
Stacy brachte ihm Bücher über andere, die gestorben und ins Leben zurückgekehrt waren. Dr. Morris im Krankenhaus hatte ihm von diesen Büchern erzählt – den klassischen Studien von Moody, Rawlings, Sabom und Ring. Er kämpfte gegen Trunkenheit, Aufregung, die blanke Unfähigkeit, sich auch nur eine Zeitlang zu konzentrieren, und zwang sich, einige dieser Berichte zu lesen.
Ja, das kannte er! Es stimmte alles. Auch er war aus seinem Körper emporgestiegen, ja, und es war kein Traum gewesen, nein, aber er hatte kein wunderschönes Licht gesehen, er war nicht von geliebten Verstorbenen begrüßt worden, und da war kein unirdisches Paradies gewesen, in das er eingelassen worden war, voller Blumen und herrlicher Farben. Etwas ganz anderes war da draußen geschehen. Er war sozusagen abgefangen worden, man hatte an ihn appelliert, ihm klargemacht, daß er eine sehr schwierige Aufgabe zu erledigen habe und daß viel davon abhänge.
Paradies. Das einzige Paradies, das er je gekannt hatte, war die Stadt, in der er aufgewachsen war, der warme, liebenswerte Ort, den er mit siebzehn verlassen hatte, das alte, große Viertel aus ungefähr fünfundzwanzig Häuserblocks, das in New Orleans als Garden District bekannt war.
Ja, dorthin zurück, wo alles anfing. Nach New Orleans, das er seit dem Sommer seines siebzehnten Lebensjahres nicht mehr gesehen hatte. Und das Komische war, daß er, als er sein Leben betrachtet hatte, wie Ertrinkende es tun sollen, zuerst und zuoberst an jenen längst vergangenen Abend gedacht hatte, an dem er im Alter von sechs Jahren auf der hinteren Veranda im Haus seiner Großmutter die klassische Musik entdeckt hatte. Er hatte in der duftenden Dämmerung vor einem alten Röhrenradio gehockt. Jalapen glühten in der Dunkelheit. Zikaden zirpten in den Bäumen. Großvater saß auf der Treppe und rauchte eine Zigarre, und dann erwachte diese Musik zum Leben, diese himmlische Musik.
Wieso hatte er diese Musik so sehr geliebt, wenn es ringsum sonst niemand tat? Anders war er gewesen, von Anfang an. Mit der Erziehung seiner Mutter war es nicht zu erklären. In ihren Ohren war jede Art von Musik Lärm. Aber er liebte diese Musik so sehr, daß er dastand und mit einem Stock dazu dirigierte; summend
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