Hexenstunde
hatte.
Ein großes Haus dort liebte sie besonders innig, und er konnte es nie vergessen: ein ausgedehntes, düsteres Stadthaus, dessen Seitenveranden von einer umfangreichen Bougainvillea umrankt waren. Und oft, wenn sie dort vorbeigingen, sah Michael einen wunderlichen, einsamen Mann allein zwischen den hohen, ungepflegten Büschen stehen, weit hinten in dem vernachlässigten Garten. Er sah in der wilden, alles überwuchernden Vegetation ganz verloren aus, dieser Mann, und er verschmolz so vollständig mit dem schattigen Blattwerk, daß ein anderer Passant ihn vielleicht gar nicht bemerkt hätte.
Tatsächlich spielten Michael und seine Mutter in diesen frühen Jahren immer ein Spiel um diesen Mann. Sie behauptete immer, sie könne ihn nicht sehen. »Aber er ist da, Mom«, antwortete Michael dann, und sie sagte: »Also gut, Michael, dann erzähle mir, wie er aussieht.«
»Na, er hat braune Haare und braune Augen, und er ist sehr schick angezogen, als ob er zu ‘ner Party wollte. Aber er beobachtet uns, Mom, und ich glaube, wir sollten hier nicht rumstehen und ihn anstarren.«
»Michael, da ist kein Mann.«
»Mom, du willst mich auf den Arm nehmen.«
Einmal war es schließlich geschehen, daß sie den Mann doch gesehen hatte, und da hatte er ihr gar nicht gefallen. Das war nicht in dem Haus gewesen. Auch nicht in dem verkommenen Garten.
Es war um die Weihnachtszeit gewesen, als Michael noch sehr klein war; am Seitenaltar der St.-Alphonsus-Kirche war eben die große Krippe aufgebaut worden, mit dem Jesuskind in der Futterraufe. Michael und seine Mutter waren hingegangen und hatten vor dem Altargitter gekniet. Es war vielleicht das erste Weihnachtsfest, an das Michael sich erinnern konnte. Wie auch immer – der Mann war dagewesen, drüben im Schatten des Altarraums, und hatte still zugeschaut, und als er Michael gesehen hatte, da hatte er leise gelächelt, wie er es immer tat. Seine Hände waren verschränkt. Er trug einen Anzug. Sein Gesicht sah sehr ruhig aus. Überhaupt sah er genauso aus wie in dem Garten in der First Street.
»Sieh nur, da ist er, Mom«, sagte Michael sofort. »Der Mann – der aus dem Garten…«
Michaels Mutter warf nur einen Blick auf den Mann und schlug dann furchtsam die Augen nieder. »Starr ihn besser nicht so an«, flüsterte sie Michael ins Ohr.
Als sie die Kirche verließen, drehte sie sich noch einmal um.
»Das ist der Mann aus dem Garten, Mom«, sagte Michael.
»Wovon redest du?« fragte sie. »Aus was für einem Garten?«
Als sie das nächste Mal die First Street hinunter gegangen waren, hatte er den Mann wiedergesehen und versucht, es ihr zu sagen. Aber wieder hatte sie das Spiel gespielt. Sie hatte ihn geneckt und behauptet, da sei kein Mann. Dann hatten sie gelacht. Es war in Ordnung, und es schien damals nicht viel zu bedeuten.
In späteren Jahren übernahm Michael noch etwas von seiner Mutter: die Filme, die sie mit ihm im »Civic Theater« anschaute. Mit der Straßenbahn fuhren sie samstags zu den Matinées. Weiberkram, Mike, sagte sein Vater immer. Er würde sich von niemandem in diese verrückten Vorstellungen schleppen lassen.
Michael hütete sich, darauf zu antworten, und mit der Zeit entwickelte er eine Art, zu lächeln und die Achseln zu zucken, daß sein Vater ihn in Ruhe ließ – und auch seine Mutter in Ruhe ließ, was ihm noch wichtiger war. Nichts würde ihm diese ganz besonderen Samstagnachmittage wegnehmen. Denn die ausländischen Filme waren wie Portale in eine andere Welt, und sie erfüllten Michael mit unaussprechlichem Schmerz und Glück.
Nie vergaß er Rebecca und Die Roten Schuhe und Hoffmanns Erzählungen und eine italienische Verfilmung der Oper Aida. Dann war da die wunderbare Geschichte des Pianisten in Polonaise. Er liebte Cäsar und Kleopatra mit Claude Rains und Vivien Leigh und Der verstorbene George Apley mit Ronald Colman, der die schönste Stimme hatte, die Michael bei einem Mann je gehört hatte.
Manchmal erklärte seine Mutter ihm alles auf dem Heimweg. Sie fuhren mit der Straßenbahn über ihre Haltestelle hinaus und weiter bis zur Carrolton Avenue. Das war eine gute Gegend, um allein zu sein. Und es gab palastartige Häuser in dieser Straße zu sehen, die jüngeren, protzigeren Häuser, die nach dem Bürgerkrieg erbaut worden waren, nicht so schön wie die älteren Gebäude im Garden District, aber gleichwohl ein luxuriöser Anblick und endlos interessant.
Ah, die stille Pein dieser gemächlichen Ausflüge – so viel zu
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