Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
Vom Netzwerk:
hatte einen freien Tag nötig gehabt, und es war ein guter Zeitpunkt dafür gewesen. Seine Leute machten ihre Sache prima da draußen, und vielleicht würde er gar nicht nach ihnen sehen. Es war der l. Mai, und eine überaus seltsame Erinnerung kam ihm in den Sinn – eine lange Fahrt, aus New Orleans hinaus und an der Golfküste entlang nach Florida, als er noch ein Kind gewesen war. Das mußte in den Osterferien gewesen sein, aber er wußte es nicht mehr genau, und alle diejenigen, die es noch hätten wissen können – seine Mutter, sein Vater, seine Großeltern -, waren tot.
    Woran er sich erinnerte, war das klare, grüne Wasser an diesem weißen Strand, und wie warm es gewesen war, und daß der Sand wie Zucker unter seinen Füßen gewesen war.
    Es hatte wehgetan, sich daran zu erinnern. Die Kälte in San Francisco war das einzige, was ihm absolut zuwider war, und nachher konnte er niemandem erklären, warum – warum diese Erinnerung an die Wärme des Südens ihn dazu gebracht hatte, an diesem Tag nach Ocean Beach zu fahren. Gab es irgendeinen Ort in der ganzen Bay-Gegend, der kälter war als Ocean Beach?
    Trotzdem war er hingefahren. Um in Ocean Beach allein zu sein an diesem trüben, farblosen Nachmittag, allein mit seinen Träumen von südlichen Gewässern, vom Fahren in dem alten Packard-Kabrio, mit heruntergeklapptem Verdeck durch den sanft liebkosenden südlichen Wind.
    Er hatte das Autoradio nicht eingeschaltet, als er durch die Stadt fuhr. Deshalb hörte er die Springflutwarnung nicht. Aber wenn er sie gehört hätte? Er wußte, daß Ocean Beach gefährlich war. Jedes Jahr wurden Leute hinausgespült, Einheimische wie Touristen.
    Vielleicht hatte er ein bißchen darüber nachgedacht, als er gleich unterhalb des »Cliff House Restaurant« auf die Klippen hinausgeklettert war. Tückisch, ja, und glitschig. Aber er hatte keine große Angst davor, ab zustürzen, oder vor dem Meer oder vor sonst irgend etwas. Und er dachte wieder an den Süden, an die Sommerabende in New Orleans, wenn der Jasmin blühte. Er dachte an den Duft der Blumen im Garten seiner Großmutter.
    Die Welle mußte ihn bewußtlos geschlagen haben. Er wußte nichts davon, daß er hinausgeschwemmt worden war; er hatte nur die klare Erinnerung daran, daß er ins Leere hinaufgeschwebt war und seinen Körper da draußen gesehen hatte, wie er von der Brandung umhergeworfen wurde, daß er Leute gesehen hatte, die winkten und mit ausgestreckten Armen hinausdeuteten, und andere, die ins Restaurant stürzten, um Hilfe herbeizurufen. Ja, er wußte, was sie da taten, alle diese Leute. Sie zu sehen, war eigentlich nicht so, wie wenn man von oben auf sie hinabschaute. Es war eher, als wisse man einfach alles über sie. Und die pure Leichtigkeit und Sicherheit, die er dort oben verspürt hatte – ach, Sicherheit war nicht annähernd das passende Wort für diesen Zustand… Frei war er gewesen, so frei, daß er ihre bange Unruhe nicht hatte verstehen können, nicht begriffen hatte, weshalb sie sich solche Sorgen um einen umhergeschleuderten Körper machten.
    Dann hatte der zweite Teil begonnen. Und da mußte er dann wirklich tot gewesen sein. All die wunderbaren Dinge wurden ihm gezeigt, die anderen Toten waren da, und er verstand, verstand die einfachsten und die kompliziertesten Dinge, verstand auch, warum er zurück gehen mußte – ja, die Tür, die Verheißung -, plötzlich und schwerelos war er zurückgeschossen in seinen Körper, der nun an Deck dieses Bootes lag, zurück in den Körper, der da draußen eine Stunde lang ertrunken und tot gewesen war, zurück in Schmerz und Pein, zu sich kommend, aufblickend, alles wissend, bereit, genau das zu tun, was sie von ihm verlangt hatten.
    In diesen ersten paar Sekunden versuchte er verzweifelt, zu erzählen, wo er gewesen war und was er gesehen hatte – das große, lange Abenteuer. Aber jetzt erinnerte er sich nur noch an den intensiven Schmerz in seiner Brust und in seinen Händen und Füßen und an die verschwommene Gestalt einer Frau in seiner Nähe. Ein zerbrechliches Geschöpf mit einem blassen, zarten Gesicht; ihr ganzes Haar hatte sie unter einer dunklen Mütze verborgen, und ihre grauen Augen flackerten eine Sekunde lang wie Lichter vor ihm. Mit sanfter Stimme hatte sie ihm gesagt, er solle nur ruhig sein, und man werde sich um ihn kümmern.
    Und dann Verwirrung. War er wieder ohnmächtig geworden? War das der Augenblick des wahren und totalen Vergessens gewesen? Niemand, so schien es, konnte

Weitere Kostenlose Bücher