Hexenstunde
vollführte er ausladende Gebärden in der Dunkelheit.
Im Irish Channel wohnten sie, hart arbeitende Leute, die Currys, und sein Vater bewohnte in der dritten Generation das kleine Doppelhaus in diesem langgestreckten Viertel am Wasser, wo so viele Iren sich niedergelassen hatten. Vor der großen Hungersnot waren Michaels Vorfahren geflohen, dicht zusammengedrängt in den Baumwollschiffen, die leer von Liverpool in den amerikanischen Süden zurückfuhren, um ihre lukrativere Ladung aufzunehmen.
Es war ein zäher Menschenschlag, von dem Michael seine kräftige Gestalt und seine Entschlossenheit geerbt hatte. Seine Liebe zur Arbeit mit den Händen kam von ihnen und hatte sich schließlich, jahrelanger Ausbildung zum Trotz durchgesetzt.
Michaels Großvater war Polizist in den Docks gewesen, wo sein Vater einst Baumwollballen verladen hatte. Er nahm Michael mit und zeigte ihm die Bananenfrachter, die hier ankamen, und die Tausende Bananen, die auf Fließbändern in den Lagerschuppen verschwanden, und er warnte ihn vor den großen schwarzen Schlangen, die sich in den Bananenstauden verstecken konnten, bis sie auf dem Markt aufgehängt wurden.
Michaels Vater war Feuerwehrmann, bis er eines Nachmittags bei einem Brand in der Tchoupitoulas Street ums Leben kam, als Michael siebzehn war. Das war der Wendepunkt in Michaels Leben, denn inzwischen waren seine Großeltern auch nicht mehr da, und so war seine Mutter mit ihm an ihren Geburtsort zurückgekehrt, nach San Francisco.
Er hegte nie den leisesten Zweifel daran, daß er es in Kalifornien gut gehabt hatte. Er war der erste aus der Familie, der ein College-Examen errang und in einer Welt von Büchern und Gemälden und schönen Häusern lebte.
Aber auch wenn sein Dad nicht gestorben wäre, hätte Michael nicht das Leben eines Feuerwehrmannes geführt. In ihm regten sich Dinge, die sich, wie es schien, in seinen Vorfahren niemals geregt hatten.
Er vertiefte sich in der Schulbibliothek in Große Erwartungen oder David Copperfield, während andere Jungen mit Papierkügelchen warfen und ihn auf den Arm boxten und ihm Prügel androhten, wenn er nicht aufhörte, sich zu benehmen wie ein »Simpel« – so nannte man im Irish Channel einen, der nicht Verstand genug hatte, um hart und brutal zu sein und alles Höhere zu verachten.
Aber niemand verprügelte ihn jemals. Er hatte genug gesunde Niedertracht von seinem Vater in sich, um jeden zu bestrafen, der es auch nur versuchte. Schon als Kind war er stämmig und ungewöhnlich stark. Und es machte ihm Spaß, sich zu schlagen. Die anderen Kinder lernten ihn in Ruhe zu lassen, und er lernte die Geheimnisse seiner Seele so weit zu verbergen, daß sie ihm seine paar Ausrutscher nachsahen und ihn im großen und ganzen mochten.
Und die Spaziergänge – was war mit den langen Spaziergängen, die keiner seiner Altersgenossen je unternahm? Nicht einmal die Freundinnen, die er später hatte, verstanden das. Rita Mae Dwyer lachte ihn aus. Marie Louise behauptete, er habe einen Knall. »Wie meinst du das – einfach gehen?« Aber von frühester Kindheit an machte es ihm Spaß, zu gehen, über die Magazine Street zu flitzen, die große Trennungslinie zwischen den engen, sonnendurchglühten Straßen, in denen er geboren war, und den großen, stillen Straßen des Garden District.
Im Garden District standen die ältesten Stadtvillen von New Orleans, schlummernd hinter mächtigen Eichen und weitläufigen Gärten. Hier schlenderte er schweigend über gepflasterte Gehwege, die Hände in den Taschen; manchmal pfiff er vor sich hin und dachte daran, daß er eines Tages hier ein großes Haus haben würde. Er würde ein Haus mit einer weißen Säulenfront haben und mit plattenbelegten Wegen. Er würde einen dieser Konzertflügel haben, wie er sie durch die hohen, bis zum Fußboden hinunterreichenden Fenster sehen konnte. Er würde Spitzengardinen und Kronleuchter haben. Und dann würde er den ganzen Tag Charles Dickens lesen, in einer kühlen Bibliothek, wo die Bücher bis zur Decke reichten und blutrote Azaleen hinter dem Verandageländer dösten.
Er fühlte sich wie der Dickenssche Held, der kleine Pip, der einen Blick auf das erhascht, von dem er weiß, daß er es besitzen muß, und doch so weit davon entfernt ist.
Aber in seiner Liebe zum Spazierengehen war er nicht ganz allein, denn auch seine Mutter hatte gern lange Spaziergänge unternommen, und vielleicht war dies eine der wenigen bezeichnenden Eigenschaften, die sie ihm vererbt
Weitere Kostenlose Bücher