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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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wollen und so wenig zu verstehen. Wenn er die Hand aus dem offenen Straßenbahnfenster streckte, bekam er hin und wieder Myrtenblüten zu fassen. Er träumte davon, Maxim de Winter zu sein. Er wollte die Titel der klassischen Musikstücke wissen, die er im Radio hörte und die er liebte, und er wollte die unverständlichen, ausländischen Worte der Ansager verstehen und im Gedächtnis behalten können.
    Und seltsam: In den alten Horrorfilmen, die er im schmutzigen »Happy Hour Theater« in der Magazine Street sah – in der Nachbarschaft also -, erblickte er oft die gleiche Welt mit den gleichen eleganten Menschen. Es waren die gleichen getäfelten Bibliotheken, bogenüberwölbten Kamine, die Männer in Smokings, die anmutigen Frauen mit den sanften Stimmen – zusammen mit Frankensteins Ungeheuer oder Draculas Tochter.
    So sehr er sich auch dagegen sträubte, allmählich begann Michael den Irish Channel zu hassen. Er liebte seine Familie. Und auch seine Freunde hatte er gern. Aber er haßte die Doppelhäuser, zwanzig Stück in einer Straße, mit ihren winzigen Vorgärtchen und den niedrigen Lattenzäunen, die Kneipe an der Ecke mit der dudelnden Musicbox im Hinterzimmer und der stets zuknallenden Fliegendrahttür, und die fetten Frauen in ihren geblümten Kleidern, die ihren Kindern auf offener Straße mit dem Gürtel oder der bloßen Hand klatschende Prügel verabreichten.
    Er verabscheute die Massen, die am späten Samstagnachmittag in der Magazine Street einkauften. Es schien ihm, als hätten die Kinder immer schmutzige Gesichter und schmutzige Kleider. Die Verkäuferinnen hinter der Theke des Ramschladens waren grob. Das Pflaster roch nach saurem Bier. Es stank in den alten Eisenbahnerwohnungen über den Läden, in denen einige seiner Freunde, die unglückseligsten, wohnten. Der Gestank durchdrang auch die alten Schuhgeschäfte und die Radioreparierwerkstätten. Er erfüllte sogar das »Happy Hour Theater«. Der Gestank der Magazine Street.
    Aber es waren die Menschen, immer wieder die Menschen, die ihn am meisten abstießen. Er schämte sich des rauhen Akzents, der verriet, daß man vom Irish Channel stammte. »Wir wissen, daß du von der Redemptoristenschule bist«, sagten die Kinder aus der Vorstadt. »Das hört man an der Art, wie du redest.«
    Sogar die Nonnen konnte Michael nicht leiden, die plumpen Schwestern mit den tiefen Stimmen, die die Jungen ohrfeigten, wann immer ihnen danach zumute war, die sie schüttelten und nach Belieben demütigten.
    Tatsächlich haßte er sie sogar ganz besonders, und der Grund war etwas, das sie getan hatten, als er sechs Jahre alt gewesen war. Ein kleiner Junge, ein »Unruhestifter«, war aus der ersten Klasse der Jungen hinausgezerrt und zur Lehrerin der ersten Klasse an der Mädchenschule hinübergeschleppt worden. Erst später erfuhr die Klasse, daß der Junge dort im Papierkorb hatte stehen müssen, weinend und schamrot vor all den kleinen Mädchen. Wieder und wieder hatten die Nonnen ihn gestoßen und geschubst und geschrien: »Hinein mit dir in den Abfalleimer, hinein mit dir!« Und die Mädchen hatten zugeschaut und den Jungen nachher davon erzählt.
    Michael machte das angst. Er empfand ein dumpfes, wortloses Entsetzen bei dem Gedanken, daß ihm selbst so etwas widerfahren könnte. Denn er wußte, daß er es nie zulassen würde. Er würde sich wehren, und dann würde sein Vater ihn auspeitschen – Gewalt, die stets angedroht, aber über einen oder zwei Klatscher mit dem Riemen hinaus nie ausgeführt worden war. Ja, all die Gewalt, deren leises Sieden er ringsum stets gespürt hatte – in seinem Vater, seinem Großvater, in allen Männern, die er kannte -, könnte ausbrechen wie ein Vulkan, und Michael fürchtete sich davor, und es war eine gräßliche, lähmende, sprachlos machende Furcht. Er fürchtete die bösartige, katastrophale Intimität des Geprügelt werdens, des Geschlagen werdens.
    Und so wurde er, seiner allgemeinen körperlichen Unruhe und seiner Halsstarrigkeit zum Trotz, in der Schule zu einem Engel, lange bevor er begriff, daß er lernen mußte, um seine Träume zu erfüllen. Er war der stille Junge, der Junge, der immer seine Hausaufgaben machte. Die Angst vor der Unkenntnis, die Angst vor Gewalt, die Angst vor Erniedrigung trieb ihn ebenso unfehlbar voran wie später sein Ehrgeiz.
    Als Michael elf war, ereigneten sich drei Dinge, die eine ziemlich dramatische Wirkung auf ihn hatten. Das erste war der Besuch seiner Tante Vivian aus San Francisco,

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