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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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das zweite eine Zufalls Entdeckung in der öffentlichen Bibliothek.
    Tante Vivians Besuch war nur kurz. Die Schwester seiner Mutter kam mit dem Zug. Sie holten sie an der Union Station ab. Sie stieg im »Pontchartrain Hotel« an der St. Charles ab, und am Abend nach ihrer Ankunft lud sie Michael und seine Eltern zum Essen in den »Caribbean Room« ein, das schicke Restaurant in ihrem Hotel. Michaels Vater sagte nein. In ein solches Lokal gehe er nicht. Außerdem sei sein Anzug in der Reinigung.
    Michael ging, ein kleiner Mann, feingemacht, und zu Fuß durchquerte er mit seiner Mutter den Garden District.
    Der »Caribbean Room« war ein erstaunliches Erlebnis für ihn: Eine fast lautlose, gespenstische Welt aus Kerzenlicht, weißen Tischdecken und Kellnern, die aussahen wie Geister oder, besser noch, wie die Vampire in den Gruselfilmen mit ihren schwarzen Jacken und den steifen weißen Hemden.
    Aber die wahre Offenbarung war, daß Michaels Mutter und ihre Schwester sich hier ganz und gar zu Hause fühlten; sie lachten leise, während sie plauderten, und fragten den Kellner dies und das: nach der Schildkrötensuppe, dem Sherry, dem Weißwein, den sie zum Essen trinken würden.
    Das vergrößerte Michaels Respekt vor seiner Mutter. Sie war keine Dame, die irgendwelche Allüren zur Schau stellte. Sie war an dieses Leben wirklich gewöhnt. Und er verstand jetzt, weshalb sie manchmal weinte und sagte, sie wolle gern zurück nach San Francisco.
    Als ihre Schwester abgereist war, fühlte sie sich tagelang elend. Sie blieb im Bett und wollte nichts als Wein zu sich nehmen, den sie als ihre Medizin bezeichnete. Michael saß bei ihr, las ihr manchmal etwas vor und bekam es mit der Angst zu tun, wenn sie eine Stunde lang kein Wort gesagt hatte. Sie wurde wieder gesund. Sie stand auf, und das Leben ging weiter.
    Aber Michael dachte noch oft an dieses Dinner, an die entspannte, natürliche Art, wie die beiden Frauen dort zusammengesessen hatten. Oft ging er am »Pontchartrain Hotel« vorbei. Mit stillem Neid sah er die gutgekleideten Leute, die draußen unter der Markise standen und auf ihr Taxi oder ihre Limousine warteten. Er platzte vor Verlangen danach, zu lernen, zu verstehen, zu besitzen. Dennoch landete er dann nebenan in Smith’s Drugstore und las Horror-Comics.
    Dann kam die Zufallsentdeckung in der öffentlichen Bibliothek. Michael hatte erst kürzlich überhaupt von der Bibliothek gehört, und die eigentliche Entdeckung ging schrittweise vonstatten.
    Er war im Lesesaal für Kinder und stöberte nach einer leichten und lustigen Lektüre, als er plötzlich oben auf einem Bücherregal ein neues leinengebundenes Buch über das Schachspiel entdeckte – ein Buch, das einem verriet, wie man spielte.
    Nun hatte Michael das Schachspielen immer als eine hochromantische Angelegenheit empfunden. Warum, hätte er nicht sagen können. Im wirklichen Leben hatte er noch nie ein Schachspiel gesehen. Er lieh das Buch aus, nahm es mit nach Hause und begann zu lesen. Sein Vater sah es und lachte. Er konnte Schach spielen, spielte es dauernd, sagte er, in der Feuerwache. Aus einem Buch konnte man das nicht lernen. Das war dämlich.
    Michael sagte, er könne es sehr wohl aus dem Buch lernen; er lerne es ja gerade.
    »Okay, dann lerne es«, sagte sein Vater, »und ich spiele mit dir.«
    Das war großartig. Noch jemand, der Schach spielen konnte. Vielleicht würden sie sich sogar ein Schachbrett kaufen. Michael hatte das Buch nach weniger als einer Woche zu Ende gelesen. Er konnte Schach spielen. Eine Stunde lang beantwortete er jede Frage, die sein Vater ihm stellte.
    »Na, das ist nicht zu glauben«, sagte sein Vater. »Aber du kannst Schach spielen. Was du jetzt noch brauchst, ist ein Schachspiel.« Michaels Vater fuhr in die Stadt. Als er zurück kam, hatte er ein Schachspiel, das alles übertraf, was Michael sich vorgestellt hatte. Es bestand nicht aus Symbolen – einem Pferdekopf, einem Turm, einer Bischofsmütze -, sondern aus richtigen Figuren. Der Springer war ein Reiter auf einem Pferd, das die Vorderhufe emporgestreckt hielt, der Läufer war eine Bischofsgestalt mit betend gefalteten Händen. Die Dame hatte langes Haar unter ihrer Krone, und der Turm war eine zinnenbewehrte Festung auf dem Rücken eines Elefanten.
    Natürlich war es aus Plastik, dieses Ding. Es stammte aus einem Kaufhaus. Aber es war um so vieles schöner als alles, was in dem Schachbuch abgebildet war, daß Michael von dem Anblick überwältigt war. Es machte

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