Hexenstunde
je habe weinen sehen.
Und diese gräßliche Carlotta – sie war eine so kalte, gemeine kleine Person. Sie stand einfach da und sah ihm nach, wie er die Treppe hinaufging, und dann erklärte sie, sie gehe jetzt hinaus auf die Vordertreppe, um dort zu warten, bis ihr Daddy nach Hause käme.
Mary Beth war auch da, und sie sagte: ›Nun, da wirst du lange warten müssen, denn dein Vater sitzt in diesem Augenblick betrunken in seinem Club, und sie werden ihn nicht vor zehn Uhr in die Kutsche laden. Zieh dir also eine Jacke an, wenn du draußen warten willst.‹
Wie sie das sagte, klang es eigentlich nicht niederträchtig, sondern nüchtern und sachlich, wie eben alles, was sie sagte. Aber Sie hätten sehen sollen, wie das Kind seine Mutter ansah. Ich glaube, sie gab ihrer Mutter die Schuld an der Sauferei ihres Vaters, und wenn sie es wirklich tat, war sie ein törichtes kleines Kind. Ein Mann wie David McIntyre hätte unter allen Umständen getrunken, ob er nun mit der Jungfrau Maria oder mit der Hure von Babylon verheiratet gewesen wäre. Darauf kam es absolut nicht an.
Aber Carlotta begriff das nie. Ich glaube, Lionel hat es begriffen, und Stella ebenfalls. Sie haben beide Eltern geliebt – zumindest sah es für mich immer so aus. Vielleicht war es Lionel dann und wann ein wenig peinlich, was der Richter anstellte, aber er war ein guter Junge, ein treuer Junge. Und Stella, ja, Stella hat ihre Mutter und ihren Vater angebetet.
Ach, aber dieser Julien. Ich erinnere mich an das letzte Jahr; da hat er es wirklich zu toll getrieben. Er nahm Lionel und Stella mit hinunter ins French Quarter, um ihnen die Unanständigkeiten zu zeigen, sozusagen, und da waren sie gerade zehn und elf Jahre alt. Das ist kein Witz! Und wissen Sie, ich glaube nicht, daß es das erste Mal war. Ich glaube nur, es war das erste Mal, daß er es nicht vor mir verbergen konnte, was er da für Unfug im Schilde führte. Und Stella, wissen Sie, hatte er als kleinen Matrosen verkleidet, und sie sah so niedlich aus. Und dann fuhren sie den ganzen Abend dort herum, und er zeigte ihnen die schicken Clubs. Mit hineingenommen hat er sie natürlich nicht; das hätte nicht mal Julien sich geleistet, nehme ich an. Aber getrunken haben sie, das kann ich Ihnen sagen.
Ich war wach, als sie nach Hause kamen. Lionel war leise; er war immer leise. Aber Stella war ganz aufgedreht von all dem, was sie da unten gesehen hatte, wissen Sie, von den Frauen dort auf der Straße. Und dann saßen wir noch lange auf der Treppe, Stella und ich, und unterhielten uns flüsternd darüber, als Lionel schon längst mit Julien hinauf in den zweiten Stock gegangen war und ihn zu Bett gebracht hatte.
Stella und ich gingen dann in die Küche und machten eine Flasche Champagner auf. Sie sagte, sie sei alt genug, um davon zu trinken; auf mich hörte sie selbstverständlich überhaupt nicht, und wer war ich auch, daß ich sie daran hindern wollte? Am Ende tanzten wir dann alle drei, sie und Lionel und ich, hinten auf der Terrasse, als die Sonne aufging. Stella führte einen Ragtime-Tanz vor, den sie da unten gesehen hatte. Sie sagte, Julien wolle mit ihnen nach Europa fahren und rund um die Welt, aber dazu kam es natürlich nicht mehr. Ich glaube nicht, daß sie wußten, wie alt Julien wirklich war – ebenso wenig wie ich es wußte. Als ich auf dem Grabstein das Jahr 1828 sah, war ich schockiert, das kann ich Ihnen sagen. Aber danach wurde mir natürlich einiges klar. Kein Wunder, daß er eine so eigentümliche Sicht der Dinge hatte. Er hatte tatsächlich ein ganzes Jahrhundert vorüber ziehen sehen.
Stella hätte auch so alt werden sollen, wirklich. Ich weiß noch, wie sie etwas zu mir sagte, was ich nie vergessen habe. Das war lange nach Juliens Tod. Wir haben hier unten zu Mittag gegessen, im ›Court of Two Sisters‹. Da hatte sie Antha schon bekommen, und natürlich hatte sie sich nicht die Mühe gemacht, zu heiraten oder wenigstens den Vater zu identifizieren. Der besseren Gesellschaft hier hätte sie damit fast die Schuhe ausgezogen. Aber was wollte ich sagen? Wir aßen zu Mittag, und sie erzählte mir, sie würde so alt werden wie Julien. Sie sagte, Julien habe in ihrer Hand gelesen und es ihr gesagt. Ein langes Leben würde sie haben.
Und wenn man es sich dann vorstellt: von Lionel erschossen, als sie noch keine dreißig Jahre alt war… mein Gott! Aber Sie wissen, daß es eigentlich Carlotta war, nicht wahr?«
Llewellyn redete inzwischen einigermaßen unzusammenhängend.
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