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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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Ich bedrängte ihn, ausführlicher über Carlotta und die Schießerei zu berichten, aber er wollte nicht weiter darüber reden. Das ganze Thema begann ihn zu ängstigen. Er kehrte zu Juliens »Autobiographie« zurück und wiederholte, wie gern er sie lesen würde. Und was er nicht alles dafür geben würde, wenn er eines Tages in das Haus gelangen und Hand an diese Papiere legen könnte, sofern sie noch oben in diesem Zimmer lägen. Aber so lange Carlotta da sei, habe er natürlich keine Chance.
    Ich wollte mir keine Gelegenheit entgehen lassen und fragte deshalb eindringlich, ob er je etwas Merkwürdiges im Haus bemerkt habe, etwas Übernatürliches, einen Geist etwa.
    Seine Reaktion auf meine Frage war sehr heftig. »Ach, das«, sagte er. »Ja, das war furchtbar, einfach furchtbar. Davon kann ich niemandem erzählen. Außerdem muß ich es mir eingebildet haben.« Dabei wäre er fast unter den Tisch gesunken.
    Ich half ihm hinauf in seine Wohnung über der Buchhandlung in der Chartres Street. Immer wieder erzählte er, Julien habe ihm das Geld für das Haus hinterlassen, und für die Eröffnung des Ladens auch. Julien hatte gewußt, daß Llewellyn Lyrik und Musik liebte und seine Büroarbeit eigentlich verabscheute. Er hatte ihm die finanzielle Unabhängigkeit geschenkt. Aber das eine Buch, das Llewellyn sich wirklich wünschte, war Juliens Lebensgeschichte.
    Als ich ein paar Tage später noch einmal versuchte, mit ihm ins Gespräch zu kommen, war Llewellyn sehr höflich, aber zurück haltend. Er entschuldigte sich dafür, daß er so viel getrunken und geredet habe, obgleich es ihm Spaß gemacht habe. Aber sein Vertrauen gewann ich nicht wieder. Ich fragte ihn noch einmal, ob es in dem Haus in der First Street spuke, wie die Leute sagten. Es gebe da so viele Geschichten.
    Aber er verhielt sich ähnlich ängstlich wie am Tag zuvor. Er wandte den Blick ab, seine Augen öffneten sich weit, und ihn schauderte. »Ich weiß nicht«, sagte er. »Es könnte das gewesen sein, was man als Geist bezeichnet. Ich denke nicht gern an diese Dinge. Ich dachte immer, es ist meine… Schuld, wissen Sie – daß ich es mir eingebildet habe.«
    Als ich ihn unversehens – und vielleicht ein bißchen zu heftig – bedrängte, sagte er, die Familie Mayfair sei eine harte und sonderbare Familie. »Mit diesen Leuten kriegt man besser keinen Ärger. Diese Carlotta Mayfair, die ist ein Monster. Ein echtes Monster.« Seine Miene war voller Unbehagen.
    Ich fragte ihn, ob sie ihm je Schwierigkeiten gemacht habe; darauf antwortete er abwinkend, sie mache jedem Schwierigkeiten. Aber dabei wirkte er abwesend und besorgt. Und dann sagte er etwas höchst Merkwürdiges, und ich notierte es, sobald ich in meinem Hotelzimmer war. Er sagte, er habe nie an ein Leben nach dem Tod geglaubt, aber wenn er an Julien denke, dann sei er überzeugt, daß er noch irgendwo existiere.
    »Ich weiß, Sie halten mich für übergeschnappt, wenn ich so etwas sage«, meinte er. »Aber ich könnte schwören, es ist so. Ich könnte schwören, daß ich in der Nacht nach unserer ersten Begegnung von Julien geträumt habe und daß Julien mir eine Menge erzählt hat. Als ich aufwachte, konnte ich mich nicht deutlich an den Traum erinnern, aber ich wußte, Julien wollte nicht, daß wir uns noch einmal unterhalten. Es gefällt mir nicht einmal, daß wir jetzt miteinander reden, aber… nun, ich habe das Gefühl, ich muß es Ihnen sagen.«
    Ich sagte, daß ich ihm glaubte. Er fügte noch hinzu, der Julien im Traum sei nicht der Julien gewesen, den er in Erinnerung habe. Er sei deutlich verändert gewesen. »Er kam mir weiser vor, gütiger -so, wie man hofft, daß jemand sein wird, der auf die andere Seite hinüber gewechselt ist. Und er sah nicht alt aus. Aber jung war er auch nicht. Ich werde diesen Traum nie vergessen. Er war… absolut real. Ich könnte schwören, Julien stand am Fußende meines Bettes. Und ich erinnere mich an einen Satz, den er sagte. Er sagte: Gewisse Dinge sind vorher bestimmt, aber man kann sie verhindern.«
    »Was für Dinge?« fragte ich.
    Er schüttelte den Kopf, und danach sagte er nichts mehr, so sehr ich auch auf ihn eindrang. Ich konnte ihn nicht einmal dazu bringen, die Geschichte noch einmal zu wiederholen.
    Das letzte Mal sah ich ihn Ende August 1959. Er war offensichtlich krank gewesen. Ein schlimmer Tremor beeinträchtigte seinen Mund und seine linke Hand, und er konnte nicht mehr völlig klar sprechen.
    Erst dachte ich, er erinnere sich nicht

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