Hexenstunde
an mich, so vage war sein Blick. Aber dann schien er mich doch zu erkennen, und er geriet in Erregung.
»Kommen Sie mit mir nach hinten«, sagte er, und als er sich mühsam von seinem Pult erheben wollte, reichte ich ihm eine Hand. Er war unsicher auf den Beinen. Durch einen staubigen Gang hinter einem Vorhang gelangten wir in einen kleinen Lagerraum, und dort blieb er stehen, als starre er etwas an; aber ich konnte nichts erkennen.
Dann lachte er kurz und seltsam und winkte ab. Mit zitternden Händen holte er eine Schachtel hervor und nahm einen Stapel Bilder heraus. Es waren lauter Bilder von Julien. Er gab sie mir. Es schien, als wolle er etwas sagen, aber er fand keine Worte.
»Ich kann Ihnen nicht sagen, wieviel mir das bedeutet«, sagte ich.
»Ich weiß«, antwortete er. »Deswegen sollen Sie sie ja haben. Sie sind der einzige Mensch, der je verstanden hat, was es mit Julien auf sich hatte.«
Da wurde ich traurig, furchtbar traurig. Hatte ich es wirklich verstanden? Vermutlich ja. Er hatte Julien Mayfairs Gestalt für mich zum Leben erweckt, und ich hatte die Gestalt verführerisch gefunden.
»Hat Julien leiden müssen, als er starb?« fragte ich.
Er verlor sich in Gedanken, schüttelte dann den Kopf. »Nein, eigentlich nicht. Es gefiel ihm natürlich nicht besonders, gelähmt zu sein. Wem würde das auch gefallen? Aber er liebte Bücher. Ich habe ihm dauernd vorgelesen. Gestorben ist er frühmorgens. Ich weiß das, weil ich bis zwei Uhr bei ihm war; dann blies ich die Lampe aus und ging nach unten.
Ja, und gegen sechs Uhr weckte mich ein Unwetter. Es regnete so heftig, daß das Wasser an den Fensterbänken hereinkam. Und die Äste des Ahorns draußen machten ein tolles Getöse. Ich lief sofort hinauf, um nach Julien zu sehen. Sein Bett stand gleich am Fenster.
Und was glauben Sie? Er hatte es irgend wie fertiggebracht, sich aufzusetzen und das Fenster zu öffnen, und da hing er tot über der Fensterbank, mit geschlossenen Augen, ganz friedlich, als habe er nur frische Luft schnappen wollen und als habe er danach einfach aufgegeben, einfach so: als sei er gestorben, wie man einschläft, mit dem Kopf auf der Seite. Es wäre ein sehr friedvoller Anblick gewesen, wenn das Unwetter nicht gewesen wäre, wenn der Regen nicht auf ihn herabgeprasselt und wenn nicht sogar Laub ins Zimmer gewirbelt wäre.
Später hieß es, er habe einen massiven Schlaganfall erlitten. Man konnte sich nicht erklären, wie er es geschafft hatte, das Fenster zu öffnen. Ich habe nie etwas gesagt, aber mir kam so der Gedanke…«
»Ja?« drängte ich.
Er zuckte leicht die Achseln und fuhr mit bleischwerer Zunge fort: »Mary Beth wurde verrückt, als ich sie rief. Sie zerrte ihn von der Fensterbank herunter und zurück aufs Kissen. Sie schlug ihm sogar ins Gesicht. ›Wach auf, Julien!‹ schrie sie. ›Julien, verlaß mich noch nicht!‹ Ich hatte verfluchte Mühe, dieses Fenster wieder zu schließen. Dann flog eine der Scheiben heraus. Es war furchtbar.
Und diese grauenhafte Carlotta kam herauf. Alle anderen kamen, um ihn noch einmal zu küssen und ihre Reverenz zu erweisen, und Millie Dear – Rémys Tochter, wissen Sie – half uns mit dem Bettzeug. Aber diese grauenhafte Carlotta stand da auf dem Treppenabsatz, die Hände gefaltet wie eine Nonne, und starrte die Tür an.
Und Belle, die geliebte Belle. Belle, der Engel. Sie kam mit ihrer Puppe herein und fing an zu weinen. Und dann stieg Stella zu ihm ins Bett und legte ihm die Hand auf die Brust.«
Llewellyn lächelte und schüttelte den Kopf, und dann fing er an, leise zu lachen, als sei ihm etwas eingefallen, das zärtliche Gefühle in ihm weckte. Er sagte etwas, aber es klang undeutlich. Dann räusperte er sich mit Mühe. »Diese Stella«, sagte er. »Alle haben Stella geliebt. Nur Carlotta nicht. Carlotta nie…« Seine Stimme erstarb.
Ich bedrängte ihn weiter mit Fragen, wie ich sie sonst in aller Regel vermeide: Ich brachte das Gespräch auf den Geist.
Ich wußte nicht, ob er mich verstand. Er kehrte zu seinem Pult zurück und setzte sich, und als ich schon ganz sicher war, daß er mich ganz und gar vergessen hatte, sagte er, es gebe da etwas in dem Haus, aber er wisse nicht, wie er es erklären solle.
»Da waren Dinge«, sagte er, und ein Ausdruck des Abscheus legte sich auf sein Gesicht. »Und ich hätte schwören können, sie wußten alle Bescheid. Manchmal war es bloß ein Gefühl… das Gefühl, daß man ständig von jemandem beobachtet wurde.«
»Steckte
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