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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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beiläufig, sie habe die ganze Sache vorhergesehen, ja, aber sie habe nicht viel tun können, um es zu ändern. Um es zu ändern, hätte sie Maitland junior ändern müssen, und das sei nicht ihre Aufgabe im Leben. Aber natürlich sei ihr furchtbar zumute, und sie wünschte, die Verwandtschaft wollte sie nicht mehr bitten, in die Zukunft zu schauen.
    »Wenn ich in die Zukunft blicke«, soll sie gesagt haben, »sehe ich nur, wie schwach die meisten Leute sind und wie wenig sie tun, um sich gegen das Schicksal oder die Fügung zu wehren. Man kann sich wehren, wißt ihr. Man kann es wirklich. Aber Maitland hatte nicht vor, irgend etwas zu ändern.« Dann zuckte sie die Achseln, erzählt man, und verließ mit ihren charakteristischen großen Schritten den Lafayette-Friedhof.
    Es gibt noch zahllose andere Geschichten über Mary Beths Vorhersagen, Ratschläge und dergleichen. Sie sind einander alle sehr ähnlich. Sie riet von bestimmten Ehen ab, und ihr Rat erwies sich jedesmal als richtig. Oder sie riet Leuten zu bestimmten Unternehmungen, und sie waren immer erfolgreich. Aber alles weist darauf hin, daß Mary Beth mit dieser Begabung sehr vorsichtig umging und ungern direkte Vorhersagen abgab. Wir haben zu diesem Thema noch ein weiteres Zitat von ihr, das sie dem Gemeindepriester gegenüber geäußert hat. Sie soll zu ihm gesagt haben, jedes starke Individuum könne die Zukunft zahlloser anderer Menschen verändern, und dies geschehe auch ständig. Angesichts der Zahl der lebenden Menschen auf der Welt seien solche Leute allerdings so rar gesät, daß es trügerisch einfach sei, die Zukunft vorherzusagen.
    »Dann besitzen wir einen freien Willen, das geben Sie jedenfalls zu«, sagte der Priester, und Mary Beth antwortete: »Den haben wir allerdings, und es ist absolut entscheidend, daß wir unseren freien Willen auch ausüben. Nichts ist vorher bestimmt. Und gottlob gibt es nicht viele starke Menschen, die den vorhersehbaren Ablauf durch einander bringen, denn unter ihnen sind ebenso viele Böse, die Kriege und Katastrophen herbeiführen, wie Visionäre, die anderen Gutes bringen.«
    Was die Einstellung der Familie ihr gegenüber angeht, so war es vielen Familienangehörigen – nach Auskunft ihrer mitteilsamen Freunde – bewußt, daß Mary Beth und Monsieur Julien von etwas Sonderbarem umgeben seien; und ob man sich in Notzeiten an sie wenden sollte oder nicht, war in jeder Generation eine stets aktuelle Frage. Man spürte, daß es Vorteile, aber auch deutliche Risiken mit sich brachte, wenn man sich an sie wandte.
    Eine Nachfahrin Lestan Mayfairs zum Beispiel, die unverheiratet schwanger geworden war, wandte sich hilfesuchend an Mary Beth; sie bekam eine Menge Geld, um das Kind zu versorgen, aber sie war nachher überzeugt, Mary Beth habe den Tod des verantwortungslosen Kindsvaters herbeigeführt.
    Ein anderer Mayfair, ein Liebling Mary Beths, wurde nach einer alkoholisierten Prügelei in einem Nachtclub im French Quarter wegen schwerer tätlicher Beleidigung verhaftet; es hieß, er habe mehr Angst vor Mary Beths Mißbilligung und ihrem Tadel gehabt als vor irgendeinem Strafgericht. Bei dem Versuch, aus der Haft zu entfliehen, wurde er erschossen, und Mary Beth erlaubte nicht, daß er auf dem Lafayette-Friedhof bestattet wurde.
    Ein anderes unglückliches Mädchen – Louise Mayfair -, die ebenfalls unehelich schwanger wurde und in der First Street Nancy Mayfair zur Welt brachte (die Mary Beth adoptierte und als eines von Stellas Kindern annahm), starb zwei Tage nach der Geburt; zahlreichen Gerüchten zufolge hatte Mary Beth, verstimmt über das Benehmen des Mädchens, sie allein und unversorgt sterben lassen.
    Aber die Geschichten über Mary Beths okkulte Kräfte oder Übeltaten im Zusammenhang mit der Familie sind relativ rar. Selbst wenn man die Verschwiegenheit der Familie berücksichtigt, die Abneigung der meisten Mayfairs gegen jeglichen Klatsch über das Familienvermächtnis, weist einfach nur wenig darauf hin, daß Mary Beth für ihre eigene Sippe eine Hexe und nicht vielmehr eine Magnatin war. Wenn sie ihre Kräfte einsetzte, tat sie es fast immer widerstrebend. Und wir haben zahlreiche Hinweise darauf, daß viele Familienangehörige den »abergläubischen Albernheiten«, die von Dienstboten, Nachbarn und gelegentlich auch Verwandten über Mary Beth verbreitet wurden, einfach keinen Glauben schenkten. Die Geschichte von der Börse mit den Goldmünzen hielten sie für lächerlich. Sie machten abergläubisches

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