Hexenstunde
Hauspersonal dafür verantwortlich, hielten das Ganze für ein Überbleibsel aus romantischen Pflanzertagen, und sie beschwerten sich über Tratsch aus der Nachbarschaft und der Kirchengemeinde.
Alles in allem gesehen deutet die Familienüberlieferung darauf hin, daß Mary Beth von ihrer Familie geachtet und geliebt wurde, daß sie das Leben und die Entscheidungen anderer Menschen nicht dominierte – außer um ihnen eine Art demonstrativer Familienloyalität abzunötigen -, daß sie, von einigen bemerkenswerten Fehlgriffen abgesehen, unter ihren Verwandten ausgezeichnete Kandidaten für geschäftliche Unternehmungen auswählte und daß sie ihr vertrauten, sie bewunderten und gern Geschäfte mit ihr machten. Ihre ausländischen Erfolge verheimlichte sie denen, mit denen sie Geschäfte machte, und womöglich verheimlichte sie auch ihre okkulten Kräfte vor den anderen und genoß es, auf schlichte, normale Art mit der Familie zusammenzusein.
Die dritte große Leidenschaft – oder Besessenheit – in Mary Beths Leben war ihre Sehnsucht nach Vergnügen. Wie wir schon gesehen haben, gingen sie und Julien gern tanzen, auf Partys, ins Theater usw. Auch hatte sie viele Liebhaber.
Die Familienmitglieder schweigen wie ein Grab zu diesem Thema, und der Dienstbotenklatsch – der uns oft durch Freunde der Familie des betreffenden Angestellten aus zweiter oder dritter Hand überliefert wird – ist unsere größte Quelle für solche Informationen. Auch die Nachbarn erzählten sich von »gutaussehenden Jungen«, die sich immer auf dem Anwesen herumtrieben und angeblich Arbeiten erledigten, für die sie absolut nicht qualifiziert waren.
Richard Llewellyns Bericht über den Stutz Bearcat, der einem jungen irischen Kutscher geschenkt wurde, hat sich durch eine schlichte Überprüfung der Meldeunterlagen bestätigen lassen. Auch andere große Geschenke – Bankauszüge belegen enorme Summen – deuten darauf hin, daß diese gutaussehenden Jungen Mary Beths Liebhaber waren. Wie ließe sich sonst erklären, daß sie zu Weihnachten fünftausend Dollar an einen jungen Kutscher verschenkte, der nicht einmal ein Gespann lenken konnte? An einen Hausmeister, der ohne Hilfe keinen Nagel in die Wand schlagen konnte?
Es ist interessant festzustellen, daß wir, alle Informationen über Mary Beth zusammengenommen, mehr Geschichten über ihre sinnlichen Gelüste haben als über irgendeinen anderen Aspekt ihres Lebens. Mit anderen Worten: Geschichten über ihre Liebhaber, ihren Weinkonsum, ihre Liebe zum Essen und ihre Tanzlust überwiegen bei weitem über ihre okkulten Fähigkeiten oder ihr Talent zum Geldmachen.
Aber wenn man all die vielen Schilderungen ihrer Liebe zu Wein, Essen, Musik, Tanz und Bettgenossen betrachtet, sieht man, daß sie sich in dieser Hinsicht eher wie ein Mann jener Zeit denn wie eine Frau benahm, daß sie ihrem Vergnügen nachging, wie ein Mann es wohl tun mochte, ohne sich lange über Konventionen oder Respektabilität den Kopf zu zerbrechen. Summa summarum hat ihr Benehmen nichts allzu Ungewöhnliches an sich, wenn man es in diesem Lichte betrachtet. Aber selbstverständlich betrachteten die Menschen ihrer Zeit es nicht in diesem Licht; sie hielten diese Liebe zum Vergnügen für ziemlich geheimnisvoll, ja, unheimlich. Mary Beth verstärkte dieses Gefühl des Mysteriösen noch durch ihre lässige Haltung zu dem, was sie tat, und durch ihre Weigerung, den für sie belanglosen Reaktionen anderer irgendwelche Bedeutung beizumessen.
Ihre Männerkleidung trug sie so lange, und sie stand ihr so gut, daß sich beinahe jeder daran gewöhnte. In ihren letzten Lebensjahren ging sie oft im Tweedanzug und mit ihrem Spazierstock aus und schlenderte stundenlang im Garden District umher. Sie machte sich nicht mehr die Mühe, ihr Haar hochzustecken oder es unter einem Hut zu verbergen; sie trug es zu einem schlichten Zopf oder Knoten geschlungen, und für die Leute war ihre Erscheinung eine Selbstverständlichkeit. Für die Dienstboten und Nachbarn viele Straßen weit im Umkreis war sie »Miss Mary Beth«, wenn sie mit leicht gesenktem Kopf und großen Schritten vorüberging und denen, die sie grüßten, flüchtig zuwinkte.
Was ihre Liebhaber angeht, so hat die Talamasca nichts genaueres über sie in Erfahrung bringen können. Über einen jungen Cousin, Alain Mayfair, wissen wir noch das meiste, aber es ist nicht einmal sicher, daß er wirklich Mary Beths Liebhaber war. Von 1911 bis 1913 arbeitete er als Sekretär oder Chauffeur
Weitere Kostenlose Bücher