Hexenstunde
ein prächtiges Haus in der Julia Street, wo Daniels Vater, Sean McIntyre, der jüngste von vier Söhnen, aufwuchs. Sean McIntyre war ein ausgezeichneter Arzt; er starb mit achtundvierzig Jahren unerwartet an einer Herzattacke.
Daniel war ein in jeder Hinsicht brillanter Wirtschaftsjurist; zahlreiche Zeugnisse belegen, daß er Julien bei einer Reihe von geschäftlichen Unternehmungen gut beraten hat. Auch vertrat er ihn erfolgreich bei mehreren entscheidend wichtigen Privatklagen. Und wir haben eine Anekdote, die uns Jahre später ein Mitarbeiter der Kanzlei erzählte: Julien und Daniel hätten im Zusammenhang mit einer dieser Privatklagen einen schrecklichen Streit gehabt, in dessen Verlauf Daniel wiederholt gesagt habe: »Julien, laß mich die Sache juristisch handhaben!« Darauf habe Julien wiederholt geantwortet: »Also schön, wenn du so verdammt entschlossen bist, es zu tun, dann tu’s. Aber ich sage dir, ich könnte mühelos dafür sorgen, daß dieser Mann sich wünscht, er wäre nie geboren worden!«
Am 11. Februar 1897, als Daniels Mutter starb, zog er aus dem Stadthaus der Familie in die St. Charles Avenue aus, ließ seine Schwester in der Obhut von Krankenschwestern und Hausmädchen und bezog Wohnung in einer prächtigen, luxuriösen Vier-Zimmer-Suite im alten St. Louis Hotel. Dort lebte er fortan »wie ein König« – das sagen jedenfalls Pagen, Kellner und Taxifahrer, die enorme Trinkgelder von ihm bezogen.
Julien Mayfair war Daniels häufigster Besucher, und er blieb oft über Nacht bei ihm in der Suite.
Zu dieser Zeit trank Daniel bereits stark, und es gibt zahllose Berichte darüber, daß das Hotelpersonal ihn in seine Suite tragen mußte. Cortland hatte ebenfalls ständig ein Auge auf ihn, und als Daniel sich in späteren Jahren ein Auto kaufte, war es immer Cortland, der sich erbot, ihn damit nach Hause zu fahren, damit er nicht sich oder jemand anderen damit umbrachte. Cortland scheint Daniel sehr gemocht zu haben. Er hat Daniel vor dem Rest der Familie immer in Schutz genommen, was mit den Jahren immer schwieriger wurde.
Wir haben keinerlei Hinweise darauf, daß Mary Beth in dieser frühen Periode je mit Daniel zusammengetroffen wäre. Sie war schon sehr aktiv im Geschäftsleben, aber die Familie hatte etliche Anwälte und Verbindungen, und wir haben keinen Beleg dafür, daß Daniel je in das Haus in der First Street kam. Es kann sein, daß die Beziehung zu Julien ihm peinlich war und daß er diesen Dingen allgemein etwas puritanischer gegenüber stand als Juliens andere Geliebte.
Jedenfalls war er der einzige von Juliens Geliebten, von dem wir wissen, daß er selbständig eine berufliche Karriere machte.
Wie immer es zu erklären sein mag – er begegnete Mary Beth gegen Ende des Jahres 1897, und Richard Llewellyns Version der Geschichte von ihrer Begegnung – in Storyville – ist die einzige, die wir haben. Wir wissen nicht, ob sie sich ineinander verliebten, wie Llewellyn angibt, aber wir wissen, daß Mary Beth und Daniel bei zahlreichen gesellschaftlichen Anlässen zusammen erschienen.
Mary Beth war inzwischen fünfundzwanzig Jahre alt und äußerst unabhängig. Und es war kein Geheimnis, daß die kleine Belle – die Tochter des mysteriösen schottischen Lord Mayfair – nicht ganz richtig im Kopf war. So reizend und liebenswert sie war, war sie doch offensichtlich außerstande, selbst die einfachsten Dinge zu lernen, und emotional reagierte sie, auch als sie älter war, immer wie eine Vierjährige auf das Leben – so beschreiben es jedenfalls später die Verwandten. Man zögerte indessen, das Wort »schwachsinnig« zu verwenden.
Natürlich wußte jeder, daß Belle nicht die geeignete Trägerin des Vermächtnisses war, da sie vielleicht niemals heiraten würde. Und darüber diskutierte die Verwandtschaft seinerzeit ziemlich offen.
Eine weitere Mayfair-Tragödie war ebenfalls ein Gesprächsthema, nämlich die Zerstörung der Pflanzung in Riverbend durch den Fluß.
Das Haus, das Marie Claudette vor der Jahrhundertwende gebaut hatte, stand auf einer Landzunge, die in den Fluß hinausragte; irgendwann um 1896 herum wurde klar, daß der Fluß entschlossen war, sich diese Landzunge zu nehmen. Man versuchte alles, aber es gab keine Rettung. Ein Deich mußte hinter dem Haus gebaut werden, und schließlich mußte das Haus geräumt werden. Das Grundstück ringsum versank langsam in den Fluten, und eines Nachts brach das Haus auf dem sumpfigen Untergrund zusammen. Eine Woche später war
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