Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
Vom Netzwerk:
sie klein war.
    Aber ich sag’ Ihnen, was sie mit Vorliebe machte und was sie nie leid wurde: Sie erzählte den anderen Mädchen Geschichten. In der großen Pause versammelten sie sich um sie, und sie verschlangen jedes ihrer Worte, bis es klingelte. Und was für Geschichten sie ihnen erzählte – Geistergeschichten von alten Pflanzervillen voll schrecklicher Geheimnisse, von Leuten, die furchtbar ermordet wurden, und vom Voodoo auf den Inseln vor vielen Jahren. Geschichten von Piraten kannte sie auch – oh, das waren die schlimmsten, die Geschichten von den Piraten, die sie erzählen konnte. Das war wirklich erschreckend. Und alles klang irgend wie wahr, wenn man sie so erzählen hörte. Aber man wußte ja, daß sie es erfinden mußte. Was wußte sie denn schon von den Gedanken und Gefühlen irgendwelcher armer Seelen auf einer gekaperten Galeone, kurz bevor ein viehischer Pirat sie über die Planken gehen ließ?
    Aber die Mädchen kriegten Alpträume von den Geschichten, die sie ihnen erzählte, und ehe man sich versah, kamen die Eltern an und fragten uns: ›Schwester, wo hat mein kleines Mädchen je solche Sachen zu hören gekriegt!‹
    Immer wieder riefen wir Miss Mary Beth an. ›Behalten Sie sie für ein paar Tage zu Hause‹, sagten wir. Denn so war das mit Stella. Man konnte das nicht tagaus, tagein aushaken. Das konnte niemand.
    Und gottlob hatte sie dann die Schule selber satt und verschwand von allein für ein paar Monate.
    Manchmal ging das so lange, daß wir dachten, sie kommt gar nicht mehr zurück. Wir hörten, daß sie draußen herumstromerte, drüben zwischen der First und der Chestnut Street, mit den Dienstbotenkindern spielte und mit dem Sohn der Köchin – schwarz wie Kohle, können Sie sich denken – einen Voodoo-Altar baute, und wir dachten dann, na ja, vielleicht sollte mal jemand hingehen und mit Miss Mary Beth darüber reden.
    Und siehe da, eines Morgens, vielleicht so gegen zehn – dem Kind war es immer egal, wann es zur Schule kam – bog die Limousine um die Ecke, und wer stieg aus? Stella in ihrer kleinen Uniform, ein wahres Püppchen, wenn Sie sich das vorstellen können, mit einer großen, breiten Schleife im Haar. Und was brachte sie mit? Einen Sack voll bunt eingepackter Geschenke für alle Schwestern, die sie alle mit Namen kannte, und eine stramme Umarmung für jede von uns – da können Sie sicher sein. ›Schwester Bridget Marie‹, flüsterte sie mir dann ins Ohr, ›ich hab’ Sie vermißt.‹ Und wahrhaftig, wenn ich dann die Schachtel aufmachte – und ich kann Ihnen sagen, es ist mehr als einmal passiert -, dann war da irgend ‘ne Kleinigkeit drin, die ich mir von ganzem Herzen gewünscht hatte. Einmal war es das kleine Jesuskind von Prag, das sie mir schenkte, ganz in Seide und Satin gekleidet, und einmal war es ein wunderschöner Rosenkranz aus Kristall und Silber. Ach, was für ein Kind. Was für ein sonderbares Kind.
    Aber es war Gottes Wille, daß sie mit den Jahren irgendwann nicht mehr kam. Sie hatte die ganze Zeit eine Gouvernante, die sie unterrichtete, und ich glaube, St. Alphonsus wurde ihr langweilig. Es hieß, sie könnte den Chauffeur dazu bringen, daß er sie überall hinfuhr, wohin sie wollte. Lionel ging auch nicht zur High-School, wenn ich mich recht erinnere. Er fing an, sich mit Stella herumzutreiben, und ungefähr um die Zeit oder etwas später war es, scheint mir, daß der alte Mr. Julien starb.
    Oh, wie hat das Kind geweint bei der Beerdigung. Natürlich sind wir nicht mit auf den Friedhof gegangen – das taten die Schwestern damals alle nicht -, aber zur Messe gingen wir schon, und da saß die kleine Stella ganz zusammengesunken in der Kirchenbank und schluchzte, und Carlotta hielt sie im Arm. Wissen Sie, als Stella starb, hieß es, Carlotta hätte sie nie leiden können. Aber Carlotta war nie gemein zu dem Kind. Nie. Und ich weiß noch, wie Carlotta ihre Schwester bei Juliens Totenmesse im Arm hielt, und wie Stella nur weinte und weinte und weinte.
    Miss Mary Beth war irgend wie in einer Art Trance. Das war tiefe Trauer, was ich da in ihren Augen sah, als sie hinter dem Sarg den Gang herunterkam. Sie hatte die Kinder bei sich, aber ihr Blick ging in weite Ferne, das konnte ich sehen. Natürlich, ihr Mann war nicht dabei, nein, der nicht. Daniel McIntyre war nie da, wenn sie ihn brauchte; so hab’ ich’s zumindest gehört. Er war sturzbetrunken, als der alte Mr. Julien entschlief; sie kriegten ihn gar nicht wach, so sehr sie ihn auch

Weitere Kostenlose Bücher