Hexenstunde
erschöpft. Schließlich sagte er Stella auf seine gutmütige Art, sie solle nur zum Mittagessen gehen; er werde sich um die ganze Angelegenheit schon kümmern.
Es scheint, daß Stella 1921 »schwanger wurde«; allerdings sollte niemand je erfahren, von wem. Es könnte Lionel gewesen sein; die Familienlegende erweckt jedenfalls den Anschein, als habe es seinerzeit jedermann vermutet.
Wer es auch gewesen sein mag, Stella gab bekannt, sie brauche keinen Ehemann, sei auch ganz allgemein nicht an der Ehe interessiert und werde ihr Baby mit allem entsprechenden Pomp und Aufwand zur Welt bringen, denn die Aussicht, Mutter zu werden, entzückte sie außerordentlich. Das Baby aber werde Julien heißen, wenn es ein Junge, und Antha, wenn es ein Mädchen würde.
Antha wurde im November 1921 geboren – ein gesundes, acht Pfund schweres Mädchen. Blutproben ergeben, daß Lionel der Vater gewesen sein kann. Aber Antha ähnelte Lionel nicht im geringsten, falls man daraus etwas schließen kann – und es will auch nicht recht ins Bild passen, daß er der Vater gewesen sein soll. Dazu mehr im folgenden.
1922, der Große Krieg war vorüber, verkündete Stella, sie wolle nunmehr die große Europa-Tour machen, die ihr zuvor verwehrt geblieben war. Mit einer Schwester für das Baby und einem widerstrebenden Lionel im Schlepptau (er hatte mit Cortland juristische Studien getrieben und wollte nicht mit) fuhren sie und Cortland, der nur allzu gern Urlaub von der Firma nahm, auch wenn es seiner Frau mißfiel, Erster Klasse nach Europa und verbrachten ein volles Jahr auf Reisen.
Nach allem, was Cortlands Nachkommen erzählen, war die ganze große Reise von Anfang bis Ende eine Sauftour, bei der Stella und Lionel endlose Wochen lang in Monte Carlo im Spielkasino saßen. Durch alle Luxushotels Europas führte die Reise, durch Museen und antike Ruinen, und nicht selten trugen sie ihren Bourbon in einer Tüte mit sich herum. Bis zum heutigen Tag sprechen Cortlands Enkelkinder über die Briefe, die er nach Hause schrieb, voller humorvoller Schilderungen ihrer Albereien.
Die Familienlegende berichtet aber auch von einer Tragödie, die das Trio im Ausland ereilte. Die Kinderschwester, die mitreiste, um das Baby Antha zu versorgen, erlitt eine Art »Zusammenbruch«, als sie in Italien waren; sie stürzte schwer auf der Spanischen Treppe in Rom und starb wenige Stunden später im Krankenhaus. Der Name der Frau war Bertha Marie Becker; sie wurde mit schweren Kopfverletzungen eingeliefert und fiel zwei Stunden später in ein Koma, aus dem sie nicht wieder erwachte.
Vorher aber zeigte sie sich noch höchst gesprächig gegenüber dem Arzt, der sie behandelte, und auch gegenüber dem Priester, der später eintraf.
Sie erzählte, daß Stella, Lionel und Cortland ein »Hexen-Trio« seien, daß sie »böse« seien und sie verzaubert hätten; außerdem reise ein »Geist« mit der Gruppe, ein braunhaariger, böser Mann, der zu allen möglichen Tages- und Nachtzeiten an der Wiege der kleinen Antha erscheine. Sie sagte, das Baby könne den Mann erscheinen lassen, und es lache dann voller Entzücken, wenn er dastehe. Der Mann wolle aber nicht, daß Bertha ihn sehe, und er habe sie in den Tod getrieben, indem er ihr im Gedränge an der Spanischen Treppe aufgelauert habe.
Der Arzt und der Priester kamen übereinstimmend zu der Auffassung, daß Bertha, ein ungebildetes Dienstmädchen, den Verstand verloren habe. Die Akte endet mit dem Vermerk des Arztes, daß die Arbeitgeber des Mädchens, sehr freundliche und wohlhabende Leute, die keine Kosten scheuten, um für ihre Bequemlichkeit zu sorgen, höchst betrübt auf ihren Verfall reagierten und nachher auch dafür sorgten, daß der Leichnam nach Hause überführt wurde.
Unseres Wissens hat niemand in New Orleans diese Geschichte je gehört. Zum Zeitpunkt ihres Todes lebte nur Berthas Mutter, und die schöpfte keinen Verdacht, als sie hörte, daß ihre Tochter an den Folgen eines Sturzes gestorben sei. Sie bekam von Stella eine gewaltige Summe Geld zum Ausgleich für den Verlust der Tochter, und Nachkommen der Familie Becker sprachen darüber noch im Jahr 1955.
Trotz dieser Tragödie kehrte die Gruppe aber nicht nach Hause zurück. Cortland schrieb seiner Frau und seinen Söhnen einen »traurigen Brief« über die Angelegenheit und berichtete, sie hätten nun »eine reizende Italienerin« engagiert, die sich besser um Antha kümmere, als Bertha, das arme Kind, es je vermocht habe.
Die Italienerin, die
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