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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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schüttelten und mit kaltem Wasser bespritzten und auf die Füße stellten. Und am Tage der Beerdigung war der Mann überhaupt nirgends zu erblicken. Hab’ später gehört, sie hätten ihn aus ‘ner Kneipe in der Magazine Street nach Hause getragen. Ist ein Wunder, daß er so lange gelebt hat.«
    In den Monaten nach Juliens Tod gab Lionel die Schule vollends auf, und er und Stella fuhren mit Cortland und Barclay nach Europa; wenige Monate vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs überquerten sie den Atlantik auf einem großen Luxusdampfer.
    Weil das Reisen auf dem Kontinent in Europa praktisch unmöglich war, verbrachten sie mehrere Wochen in Schottland und besuchten Donnelaith Castle; dann begaben sie sich in exotischere Klimazonen. Unter beträchtlichen Risiken reisten sie nach Afrika, blieben eine Weile in Kairo und in Alexandria und fuhren dann weiter nach Indien, und von unterwegs schickten sie zahllose Kisten mit Teppichen, Statuen und anderen Erinnerungsstücken nach Hause.
    1915 verließ Barclay, dem seine Familie fehlte und der des Reisens müde war, die Gruppe und begab sich auf die Überfahrt nach New York. Die Lusitania war soeben von einem deutschen U-Boot versenkt worden, und die Familie wartete mit angehaltenem Atem auf Barclays Ankunft, aber bald schon erschien er im Haus in der First Street und hatte phantastische Geschichten zu erzählen.
    Die Lage war nicht besser geworden, als Cortland, Stella und Lionel beschlossen, nach Hause zu kommen. Aber die Luxus-Liner fuhren trotz aller Gefahren, und das Trio brachte die Reise ohne Mißgeschicke hinter sich und langte kurz vor Weihnachten 1916 in New Orleans an.
    Da war Stella fünfzehn Jahre alt.
    Auf einem Photo aus diesem Jahr trägt sie den Mayfair-Smaragd. Es war allgemein bekannt, daß sie die designierte Erbin des Vermächtnisses war. Mary Beth war anscheinend außergewöhnlich stolz auf sie; sie nannte sie »die Furchtlose« wegen ihres Umherstreifens; zwar war sie enttäuscht, daß Lionel nicht weiter zur Schule und später nach Harvard gehen wollte, aber sie hat offenbar alle ihre Kinder akzeptiert, wie sie waren. Carlotta hatte eine eigene Wohnung in einem der Nebengebäude und fuhr jeden Tag mit einem Auto mit Chauffeur zur Universität Loyola.
    Die Solidarität in der Familie hat es uns immer sehr schwer gemacht, fest zu stellen, wie die Verwandten in Wirklichkeit über Stella dachten oder was sie tatsächlich von ihren Schwierigkeiten in der Schule wußten.
    Aber zu jenem Zeitpunkt gibt es schon zahlreiche aktenkundige Hinweise darauf, daß Mary Beth den Dienstboten beinahe beiläufig erzählt hat, Stella sei die Erbin oder »Stella sei diejenige, die alles erben würde«; es findet sich sogar die bemerkenswerte Äußerung – eine der bemerkenswertesten in unseren gesamten Unterlagen -, die zweimal und ohne jeden Kontext zitiert wird: »Stella hat den Mann gesehen.»
    Wir haben keine Aufzeichnungen darüber, daß Mary Beth diese merkwürdige Äußerung je erläutert hätte. Wir wissen nur, daß sie sie gegenüber einer Wäscherin namens Mildred Collins und gegenüber einem irischen Hausmädchen namens Patricia Devlin getan hat, und wir haben Geschichten aus dritter Hand.
    Es ist sehr leicht möglich, daß Mary Beth ähnliche Bemerkungen auch anderen Leuten gegenüber machte, denn in den zwanziger Jahren wußten die alten Leute im Irish Channel von dem »Mann«. Sie redeten über den »Mann«.
    Für uns ist dies jedenfalls ein unverkennbarer Hinweis auf Lasher, und seine Implikationen sind besorgniserregend; es gemahnt uns daran, wie wenig wir in Wirklichkeit über die Mayfair-Hexen und über das, was sich zwischen ihnen abspielte, wissen.
    Ist es zum Beispiel möglich, daß die Erbin in jeder Generation ihre Macht dadurch manifestieren muß, daß sie unabhängig von anderen »den Mann sieht«? Das heißt: Mußte sie den Mann sehen, wenn sie allein war, weit entfernt von der älteren Hexe, die sonst als Kanal hätte fungieren können, und war es erforderlich, daß sie aus freien Stücken erzählte, was sie gesehen hatte?
    Wieder einmal müssen wir gestehen, daß wir es nicht wissen können.
    Was wir indessen wissen, ist, daß die Leute, die von dem »Mann« wußten und über ihn redeten, ihn nicht in Verbindung mit irgendeiner dunkelhaarigen, anthropomorphen Gestalt brachten, die sie selbst gesehen hatten. Sie brachten den Mann auch nicht in Verbindung mit dem mysteriösen Wesen, das einmal mit Mary Beth in der Droschke gesehen worden war –

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