Hexenstunde
dort gewesen?
Vielleicht war es, rückblickend betrachtet, ein Fehler, daß die Talamasca den Fall Stuart Townsend nicht weiter verfolgte, daß sie keine umfassende Untersuchung verlangte, daß sie die Polizei nicht heftiger dazu drängte, mehr zu unternehmen. Tatsache ist aber, daß wir durchaus drängten.
Aber in den Tagen nach Stellas Ermordung war niemand bereit, die Mayfairs mit weiteren Fragen nach einem mysteriösen Texaner aus England zu »stören«. Und unseren Detektiven, unter ihnen einige der Besten aus der Branche, gelang es nie, das Schweigen der Hotelangestellten zu brechen oder wenigstens einen Hinweis darauf zu bekommen, wer sie bestochen haben könnte. Es ist töricht, zu glauben, die Polizei hätte erfolgreicher sein können.
Aber es gibt noch eine interessante zeitgenössische »Ansicht«, die wir betrachten wollen, ehe wir dieses Verbrechen ungelöst zu den Akten legen – nämlich die letzte Äußerung zum Thema von Irwin Dandrich, der in der Weihnachtszeit 1929 in einer Bar im French Quarter mit einem unserer Detektive plauderte.
»Ich verrate Ihnen das Geheimnis dieser Familie«, sagte Dandrich. »Und ich beobachte sie seit Jahren. Wohlgemerkt, nicht bloß für eure komischen Vögel in London. Ich habe sie beobachtet, wie jeder sie beobachtet – habe mich andauernd gefragt, was wohl hinter den verschlossenen Läden vor sich gehen mag. Das Geheimnis besteht in der Erkenntnis, daß Carlotta Mayfair nicht die sauber lebende, rechtschaffene Katholikin ist, die sie immer zu sein vorgibt. Die Frau hat etwas Geheimnisvolles und Böses an sich. Sie ist destruktiv, und rachsüchtig ist sie auch. Sie würde es lieber sehen, daß die kleine Antha verrückt wird, ehe sie so wird wie Stella. Lieber soll das Haus finster und verlassen daliegen, als daß andere Leute dort ihren Spaß haben.«
Oberflächlich betrachtet erscheinen solche Bemerkungen vereinfachend, aber es steckt vielleicht mehr Wahrheit darin, als es irgend jemandem seinerzeit klar war. In den Augen der Welt repräsentierte Carlotta unter allen Umständen ein sauberes Leben, Vernunft, Rechtschaffenheit und dergleichen. Von 1929 an besuchte sie täglich die Messe in der Kapelle Unserer Heiligen Mutter von der Immerwährenden Hilfe in der Prytania Street, und sie spendete freigiebig für die Kirche und für alle ihre Organisationen, und wenn sie auch mit Mayfair und Mayfair einen Privatkrieg um die Verwaltung von Anthas Vermögen führte, war sie doch stets überaus großzügig.
Man kritisierte sie niemals dafür, daß sie es unterließ, der Familie ihr Haus zu öffnen, oder daß sie sich weigerte, die Familientreffen und sonstige Zusammenkünfte wiedereinzuführen. Im Gegenteil, man hatte Verständnis dafür, daß sie »alle Hände voll zu tun« hatte. Niemand forderte je irgend etwas von ihr. Tatsächlich wurde sie im Laufe der Jahre eine Art säuerliche Heilige für die Familie.
Meine Meinung – was immer sie wert sein mag – nach einem vierzigjährigen Studium der Familie ist die, daß in Irwin Dandrichs Einschätzung eine Menge Wahrheit steckt. Nach meiner persönlichen Überzeugung ist sie ebenso geheimnisvoll wie Mary Beth oder Julien. Und wir haben nur die Oberfläche dessen angekratzt, was in diesem Hause vor sich geht.
WEITERE KLARSTELLUNG DER POSITION UNSERES ORDENS
Im Blick auf die Zukunft entschied die Talamasca 1929, daß kein weiterer persönlicher Kontaktversuch unternommen werden solle.
Unser Direktor, Evan Neville, war der Ansicht, daß wir zunächst und zuoberst Arthur Langtrys Ratschlag beherzigen sollten und daß zweitens auch die Warnung des Geistes von Stuart Townsend ernstgenommen werden müsse. Wir sollten uns vorläufig von den Mayfairs fernhalten.
Mehrere jüngere Mitglieder des Rates meinten indessen, wir sollten mit Carlotta Mayfair schriftlich in Kontakt treten. Was sollte dabei schon Schlimmes herauskommen, fragten sie, und welches Recht hatten wir, ihr unsere Informationen vorzuenthalten!
Dies löste eine heftige und scharfe Debatte aus. Die älteren Ordensmitglieder erinnerten die jüngeren daran, daß Carlotta Mayfair höchstwahrscheinlich für den Tod Stuart Townsends verantwortlich sei und ganz sicher auch für den Mord an ihrer Schwester Stella. Welche Verpflichtungen konnten wir einer solchen Person gegenüber haben? Antha sei es, der wir unsere Eröffnungen zu machen hätten; das aber sei überhaupt erst in Erwägung zu ziehen, wenn Antha einundzwanzig Jahre alt sei.
Außerdem – wie
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