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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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erschossen, wenn ich’s gekonnt hätte. Ich hätt’s getan, o Gott im Himmel, warum haben sie mich aufgehalten? ›Siehst du es nicht? Jetzt hat er Antha. Seid ihr alle blind?‹ Das habe ich gesagt. Sagen Sie’s mir! Sind die alle blind?«
    Und so ging es immer weiter, tagelang ohne Ende. Dennoch ist das obige Zitat das einzige wörtlich festgehaltene Fragment in den Unterlagen der Ärzte; hernach erfahren wir nur noch, der Patient rede »weiter über sie und sie und ihn und ihn, und eine dieser Personen soll wohl der Teufel sein«. Oder: »Tobt wieder, redet unzusammenhängend, deutet an, daß jemand ihn angestiftet habe, aber es ist nicht klar, wer es gewesen sein soll.«
    Am Abend von Stellas Begräbnis, drei Tage nach dem Mord, versuchte Lionel zu fliehen. Von da an hielt man ihn ständig in Fesseln.
    »Wie sie es geschafft haben, Stella zusammenzuflicken, werde ich nie begreifen«, sagte eine Cousine sehr viel später. »Aber sie sah reizend aus. Eigentlich war das Stellas letzte Party. Sie hatte detaillierte Anweisungen hinterlassen, wie alles zu handhaben sei, und wissen Sie, was ich später gehört habe? Sie hatte es schon mit dreizehn Jahren aufgeschrieben! Das muß man sich vorstellen – die romantischen Ideen einer Dreizehnjährigen!«
    Aber romantisch war es auch in anderer Weise. Stella lag ganz in Weiß in einem offenen Sarg am vorderen Ende des langgestreckten Salons, und Dutzende von Wachskerzen verbreiteten ein ziemlich spektakuläres Licht.
    »Ich sage Ihnen, wie es war«, berichtete eine Cousine später. »Wie eine Mai-Prozession. Ganz genauso, mit all den Lilien, dem Duft – und Stella wie die Maikönigin, ganz in Weiß.«
    Cortland, Barclay und Garland begrüßten die Verwandten, die zu Hunderten erschienen. Pierce durfte ihr seine Reverenz erweisen, wurde aber unmittelbar danach zur Familie seiner Mutter nach New York geschickt. Die Spiegel waren nach altem irischen Brauch verhangen; allerdings wußte anscheinend keiner, auf wessen Anordnung das geschehen war.
    In der Nacht nach der Beerdigung wachte Lionel in der Klinik schreiend auf. »Er ist da, er läßt mich nicht in Ruhe!«
    Am Ende der Woche steckte er in einer Zwangsjacke, und am 4. November sperrte man ihn in eine Gummizelle. Während die Ärzte erörterten, ob man es mit einer Elektroschockbehandlung versuchen oder ihn lediglich sedieren solle, kauerte Lionel in der Ecke, außerstande, die Arme aus der Zwangsjacke zu befreien, und bemühte sich wimmernd, den Kopf vor seinem unsichtbaren Peiniger abzuwenden.
    Die Schwestern erzählten Irwin Dandrich, er habe nach Stella um Hilfe geschrien. »Er macht mich verrückt! Oh, warum, in Gottes Namen, bringt er mich nicht um? Stella, hilf mir! Stella, sag ihm, er soll mich umbringen!«
    »Er gilt als absolut und unheilbar wahnsinnig«, schrieb einer unserer Detektive. »Freilich, wenn er geheilt würde, müßte er sich vielleicht vor Gericht für den Mord verantworten. Gott weiß, was Carlotta den Behörden erzählt hat. Möglicherweise gar nichts. Möglicherweise hat nie jemand gefragt.«
    Am Morgen des 6. November bekam Lionel – allein und unbewacht – offenbar Krämpfe und erstickte: Er hatte seine Zunge verschluckt. Im Bestattungsinstitut in der Magazine Street wurde keine Totenwache gehalten. Am Morgen des Begräbnisses wurden die Verwandten dort abgewiesen und direkt zur Messe in die St. Alphonsus-Kirche geschickt. Dort teilten ihnen Angestellte des Bestattungsunternehmens mit, daß sie nachher nicht zum Friedhof gehen sollten, da Miss Carlotta die Angelegenheit in aller Stille zu erledigen wünsche.
    Gleichwohl versammelten sie sich auf der Prytania Street am Ausgang von Lafayette Nr. 1 und sahen von weitem zu, wie Lionels Sarg neben dem von Stella bestattet wurde.
    Später hieß es in der Familie:
    »Es war alles vorüber, und jeder wußte es. Der arme Pierce kam schließlich darüber hinweg. Er studierte eine Zeitlang in Columbia und ging im folgenden Jahr nach Harvard. Aber bis zu seinem Tod erwähnte niemand in seiner Gegenwart je den Namen Stella. Und wie er Carlotta gehaßt hat! Ein einziges Mal habe ich ihn darüber reden hören, und da sagte er, sie sei für alles verantwortlich. Sie hätte lieber selbst abdrücken sollen!«
    Pierce erholte sich nicht nur, er wurde sogar ein äußerst fähiger Anwalt und spielte im Laufe der Jahrzehnte eine entscheidende Rolle in der Verwaltung und Vergrößerung des Mayfair-Vermögens. Er starb 1986. Sein Sohn, Ryan Mayfair, geboren

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