Hexenstunde
sollten die Informationen ohne irgendeinen lenkenden persönlichen Kontakt an Carlotta Mayfair weiter geleitet werden? Welche Informationen hatten wir überhaupt zu geben? Und was würde sie damit anfangen? Wie würde sie sie im Hinblick auf Antha nutzen? Was würde ihre Reaktion sein? Und wenn wir Carlotta das vorhandene historische Material gäben, warum dann nicht auch Cortland und seinen Brüdern? Ja, warum nicht überhaupt jedem Mitglied der Familie Mayfair? Aber wenn wir so etwas täten, wie würden sich solche Informationen auf diese Menschen auswirken? Mit welchem Recht zogen wir eine derart spektakuläre Einmischung in das Leben dieser Leute auch nur in Erwägung?
Und so tobte die Debatte immer weiter…
Wie immer in solchen Zeiten kam es zu einer vollständigen Neubewertung der Regeln, der Ziele und des Ethos der Talamasca. Wir waren gezwungen, uns selbst neuerlich zu bestätigen, daß die Geschichte der Familie Mayfair – wegen ihrer Länge und ihres Detailreichtums – für uns als Erforscher des Okkulten von unschätzbarem Wert sei und daß wir weiter Informationen über die Mayfairs sammeln würden, was immer die jüngeren Mitglieder des Rates über das Ethos und dergleichen sagen mochten. Aber unser Versuch einer »Kontaktaufnahme« war ein Fehlschlag gewesen. Wir würden abwarten, bis Antha Mayfair einundzwanzig wäre, und dann würde man eine vorsichtige Annäherung in Erwägung ziehen, wobei es darauf ankäme, welches Ordensmitglied zum entsprechenden Zeitpunkt für einen solchen Auftrag zur Verfügung stände.
Es lag wegen der komplizierten Geschichte auf der Hand, daß die Talamasca ein Mitglied finden mußte, das bereit war, die Beschäftigung mit den Mayfair-Hexen als alleinigen Auftrag zu übernehmen – jemanden, der in der Lage wäre, die ganze Akte detailliert zu studieren und dann intelligent und verantwortungsvoll zu entscheiden, was auf diesem Gebiet zu tun sei. Und in Anbetracht des tragischen Todes, den Stuart Townsend gefunden hatte, wurde beschlossen, daß eine solche Person erstklassige Erfahrungen in der Feldforschung besitzen müsse; und sie müsse ihre Kenntnisse der Akte dadurch unter Beweis stellen, daß sie das gesamte Material zu einer einzigen langen, zusammenhängenden und lesbaren Erzählung zusammenfügte. Dann – und erst dann – werde eine solche Person die Erlaubnis erhalten, ihr Studium der Mayfair-Hexen durch direktere Beobachtungen mit Blick auf einen irgendwann herzustellenden Kontakt zu erweitern.
Der einzige, betrübliche Makel dieses Planes bestand darin, daß der Orden eine solche Person erst im Jahre 1953 fand. Da aber hatte Antha Mayfairs tragisches Leben bereits sein Ende gefunden. Die Erbin des Vermächtnisses war ein blaßgesichtiges zwölfjähriges Mädchen, das bereits von der Schule verwiesen worden war, weil es »mit seinem unsichtbaren Freund redete« und Blumen durch die Luft fliegen ließ und verlorene Gegenstände wiederfand und Gedanken lesen konnte.
»Ihr Name ist Deirdre«, sagte Evan Neville, und sein Gesicht war von Sorge und Trauer zerfurcht, »und sie wächst in diesem düsteren alten Haus auf wie ihre Mutter vor ihr, allein mit diesen alten Weibern. Gott allein weiß, was diese Frauen über ihre Familiengeschichte wissen oder vermuten, über ihre Kräfte und über diesen Geist, der bereits an der Seite des Kindes gesehen wurde.«
Das junge Ordensmitglied, in heftiger Begeisterung entbrannt von diesem und von früheren Gesprächen und von umfassender, zielloser Lektüre der Mayfair-Akte, beschloß, lieber rasch zu handeln.
Da ich dieses Ordensmitglied natürlich selbst bin, werde ich nun, ehe ich die kurze und traurige Geschichte der Antha Mayfair berichte, kurz innehalten, um mich vorzustellen.
DER AUTOR DIESER ERZÄHLUNG, AARON LIGHTNER, BETRITT DIE BÜHNE
Eine komplette Biographie meiner Person ist unter dem Stichwort Aaron Lightner erhältlich. Für den Zweck der vorliegenden Erzählung ist das Folgende mehr als hinreichend.
Ich bin 1921 in London geboren. Nach dem Studium in Oxford wurde ich 1943 Vollmitglied des Ordens; ich hatte aber schon seit meinem siebten Lebensjahr mit der Talamasca zusammengearbeitet und lebte seit meinem fünfzehnten Lebensjahr im Mutterhaus.
Tatsächlich war der Orden schon 1928 auf mich aufmerksam gemacht worden, und zwar durch meinen englischen Vater (einen Lateingelehrten und Übersetzer) und meine amerikanische Mutter (eine Klavierlehrerin), als ich sechs Jahre alt war. Eine
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