Hexenstunde
mir Sorgen um sie gemacht; ich wollte ihr meine Hilfe anbieten.«
»Das ist sehr anmaßend von Ihnen. Von Ihnen und Ihren Londoner Freunden.« Ein Hauch von Zorn. Oder war es nur Ärger, weil ich den Bourbon nicht trinken wollte? Ich sah ihn eine ganze Weile an, und mein Geist leerte sich, bis kein Laut mehr störte, keine Bewegung, keine Farbe – nur noch sein Gesicht war da, und eine leise Stimme in meinem Kopf, die mir sagte, was ich wissen wollte.
»Ja, es ist anmaßend, nicht wahr?« sagte ich. »Aber sehen Sie, unser Vertreter Petyr van Abel war der Vater von Charlotte Mayfair, die 1664 in Frankreich geboren wurde. Als er später nach Saint Domingue reiste, um seine Tochter zu besuchen, wurde er von ihr in Gefangenschaft gehalten. Und bevor Ihr Geist Lasher ihn auf einer einsamen Straße in den Tod trieb, schlief er mit seiner eigenen Tochter Charlotte und wurde so der Vater ihrer Tochter Jeanne Louise. Das bedeutet, er war Angeliques Großvater und der Urgroßvater jener Marie Claudette, die Riverbend baute und das Vermächtnis schuf, das Sie heute für Deirdre verwalten. Können Sie meiner Geschichte folgen?«
Er war offensichtlich unfähig zu einer Reaktion. Er starrte mich an, und die Zigarette qualmte in seiner Hand. Ich spürte keine Bosheit oder Wut von ihm ausgehen, aber ich beobachtete ihn scharf, als ich fortfuhr.
»Ihre Vorfahren sind die Nachkommen unseres Vertreters Petyr van Abel. Wir sind mit einander verwandt, die Mayfair-Hexen und die Talamasca. Aber auch anderes führt uns nach all den Jahren wieder zusammen. Stuart Townsend, unser Vertreter, der 1929 hier in New Orleans nach einem Besuch bei Stella verschwand. Erinnern Sie sich an Stuart Townsend? Sein Verschwinden wurde nie aufgeklärt.«
»Sie sind ja verrückt, Mr. Lightner«, sagte er ohne eine merkliche Änderung seines Gesichtsausdrucks. Er zog an seiner Zigarette und drückte sie dann aus, obwohl sie noch nicht halb aufgeraucht war.
»Dieser Geist, Ihr Lasher – er hat Petyr van Abel getötet«, sagte ich ruhig. »War es Lasher, den ich eben gesehen habe? Da drüben?« Ich deutete hinter mich in den Garten. »Er bringt Ihre Nichte um den Verstand, nicht wahr?«
Jetzt war doch eine bemerkenswerte Veränderung über ihn gekommen. Sein Gesicht, so wunderschön umrahmt von seinem dunklen Haar, sah in seiner Verblüffung absolut unschuldig aus.
»Es ist Ihnen völlig ernst damit, wie?« Es waren die ersten ehrlichen Worte, die aus seinem Munde kamen, seit er die Bar betreten hatte.
»Selbstverständlich«, sagte ich. »Wieso sollte ich versuchen, Leute zu täuschen, die Gedanken lesen können? Das wäre doch töricht, oder?« Ich schaute auf mein Glas. »Gerade so töricht, als wenn Sie erwarten würden, daß ich diesen Bourbon trinke und dem Mittel erliege, das Sie hineingetan haben – wie Stuart Townsend oder nach ihm Cornwell Mayfair.«
Er versuchte seinen Schrecken hinter einer ausdruckslosen, nichtssagenden Miene zu verbergen. »Das ist eine sehr ernsthafte Anschuldigung«, sagte er leise.
»Die ganze Zeit über dachte ich, es wäre Carlotta. Aber es war nie Carlotta, nicht wahr? Sie waren es.«
»Wen interessiert, was Sie denken?« flüsterte er. »Wie können Sie es wagen, so etwas zu mir zu sagen?« Dann bezähmte er seine Wut wieder. Er verlagerte seine Position auf dem Stuhl, ließ mich aber nicht aus den Augen, als er sein Zigarettenetui aufklappte und eine neue Zigarette herausnahm. Seine ganze Haltung wandelte sich plötzlich und zeigte ehrliche Neugier. »Was, zum Teufel, wollen Sie, Mr. Lightner?« fragte er ernst und mit gesenkter Stimme. »Mal im Ernst, Sir: Was wollen Sie?«
Ich überlegte einen Moment. Diese Frage stellte ich mir seit Wochen immer wieder. Was hatte ich erreichen wollen, als ich nach New Orleans fuhr? Was wollen wir wirklich? Und was wollte ich?
»Wir wollen Sie kennenlernen«, sagte ich und war selbst ziemlich überrascht, es zu hören. »Wir wollen Sie kennenlernen, weil wir so viel über Sie wissen und doch zugleich überhaupt nichts. Wir wollen Ihnen erzählen, was wir über Sie wissen – all die kleinen Informationen, die wir über Sie gesammelt haben, alles, was wir über die ferne Vergangenheit wissen! Wir wollen Ihnen erzählen, was wir über ihn wissen. Und wir wünschen uns, daß Sie mit uns sprechen. Wir wünschen uns, daß Sie uns vertrauen und daß Sie uns willkommen heißen! Und schließlich: Wir wollen Deirdre Mayfair die Hand entgegen strecken und ihr sagen: ›Es gibt
Weitere Kostenlose Bücher