Hexenstunde
Ich hatte die ganze Zeit gedacht, es sei Carlotta.
»Oh, verzeihen Sie«, sagte er und machte plötzlich ein überraschtes Gesicht, als sei ihm gerade etwas eingefallen. »Ich muß meine Medizin nehmen – das heißt, wenn ich sie finden kann…« Er betastete seine Taschen und zog dann etwas aus der Jacke. Ein Fläschchen mit Tabletten. »Wie lästig«, sagte er kopfschüttelnd. »Gefällt Ihnen Ihr Aufenthalt in New Orleans?« Er wandte sich um und bat um ein Glas Wasser. »Natürlich waren Sie in Texas bei meiner Nichte; das weiß ich. Aber Sie haben zweifellos auch die Stadt besichtigt. Was halten Sie von diesem Garten hier?« Er deutete hinaus. »Eine tolle Geschichte mit diesem Garten. Hat man sie Ihnen schon erzählt?«
Ich drehte mich um und schaute in den Garten hinaus. Ich sah die unebenen Steinplatten, einen verwitterten Springbrunnen und dahinter, im Schatten, einen Mann. Einen großen, schlanken Mann im Gegenlicht. Gesichtslos. Regungslos. Die Kälte, die mir über den Rücken rieselte, fühlte sich beinahe köstlich an. Ich schaute den Mann an, und langsam zerschmolz er, um schließlich ganz zu verschwinden.
Ich erwartete einen warmen Luftzug, aber ich fühlte nichts. Vielleicht war ich zu weit weg von dem Wesen, und vielleicht irrte ich mich auch, wenn ich zu wissen glaubte, wer oder was es gewesen war.
Eine Ewigkeit schien zu verstreichen. Als ich mich schließlich umdrehte, sagte Cortland: »Eine Frau hat in diesem Gärtchen Selbstmord begangen. Es heißt, einmal im Jahr ist der Springbrunnen rot von ihrem Blut.«
»Wie bezaubernd«, sagte ich leise. Ich beobachtete, wie er sein Wasserglas hob und halb leertrank. Schluckte er seine Tabletten? Das Fläschchen war verschwunden. Ich warf einen Blick auf meinen Bourbon mit Wasser. Um nichts in der Welt hätte ich ihn angerührt. Abwesend betrachtete ich meinen Stift, der neben meinem Tagebuch lag, und steckte ihn dann in die Tasche. Ich war so versunken in allem, was ich sah und hörte, daß ich nicht das leiseste Bedürfnis verspürte, ein Wort zu sagen.
»Nun denn, Mr. Lightner, wollen wir zur Sache kommen.« Wieder dieses Lächeln, dieses strahlende Lächeln.
»Selbstverständlich«, sagte ich. Was fühlte ich? Eine seltsame Erregung. Ich saß hier mit Juliens Sohn Cortland, und er hatte soeben ein Mittel, ohne Zweifel ein tödliches, in meinen Drink getan. Er glaubte, daß er damit davonkommen werde. Und plötzlich war ich wie elektrisiert. Die ganze dunkle Geschichte wirbelte in meinem Kopf. Ich gehörte dazu. Ich saß nicht in England und las darüber. Ich war hier. Vielleicht lächelte ich ihn an. Ich wußte, daß auf diesen wunderlichen Höhenflug der Emotionen ein niederschmetternder Absturz folgen würde. Der verfluchte Halunke versuchte mich umzubringen.
»Ich habe die ganze Angelegenheit geprüft – die Talamasca et cetera«, sagte er in künstlich munterem Ton. »Wir können gegen Sie nichts machen. Wir können Sie nicht zwingen, Ihre Informationen über unsere Familie preiszugeben, weil sie anscheinend absolut vertraulich und nicht für die Veröffentlichung oder sonst eine bösartige Verwendung gedacht sind. Wir können Sie nicht zwingen, mit Ihren Recherchen aufzuhören, solange Sie nicht gegen irgendwelche Gesetze verstoßen.«
»Ja. Das stimmt vermutlich alles.«
»Aber wir können es Ihnen und Ihren Vertretern ungemütlich machen, sehr ungemütlich, und wir können es Ihnen rechtlich unmöglich machen, sich uns und unserem Besitz auf weniger als soundsoviele Schritte zu nähern. Allerdings wäre das kostspielig für uns, und es würde Sie im Grunde nicht aufhalten – zumindest nicht, wenn Sie das sind, was Sie zu sein behaupten.«
Er schwieg, nahm einen Zug aus seiner dünnen dunklen Zigarette und warf einen Blick auf mein Bourbon-Glas. »Habe ich Ihnen den falschen Drink bestellt, Mr. Lightner?«
»Sie haben keinen speziellen Drink bestellt. Der Kellner hat gebracht, was ich schon den ganzen Nachmittag trinke. Ich hätte es rechtzeitig sagen sollen. Ich habe wirklich genug für heute.«
Sein Blick wurde für einen Moment hart, als er mich ansah – ja, seine lächelnde Maske verschwand spurlos. Und in diesem Augenblick der Ausdruckslosigkeit und fehlenden Verstellung sah er beinahe jugendlich aus.
»Sie hätten diese Fahrt nach Texas nicht machen dürfen, Mr. Lightner«, sagte er kalt. »Sie hätten meine Nichte nicht so verstören dürfen.«
»Da stimme ich Ihnen zu. Ich hätte sie nicht verstören dürfen. Ich habe
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