Hexenstunde
ich diese Gedanken niederschrieb, plagte mich die Erinnerung an die Erscheinung. Dieses Wesen war so mächtig! Seine scheinbare Körperlichkeit und seine Kraft waren viel größer als bei irgendeinem anderen der Phantome, die ich bis dahin gesehen hatte. Und doch war es nur ein fragmentarisches Bild gewesen.
Meiner Erfahrung nach erscheinen nur die Geister kürzlich Verstorbener mit solch eindringlicher Stofflichkeit. Beispielsweise kann der Geist eines im Gefecht gefallenen Piloten am Tag seines Todes im Wohnzimmer seiner Schwester erscheinen, und sie wird nachher sagen: »Aber er war so real – ich konnte sogar den Schlamm an seinen Schuhen sehen!«
Geister längst Verstorbener waren fast nie von solcher Dichte und Lebendigkeit.
Und körperlose Wesen? Sie konnten die Leiber der Lebenden und der Toten in Besitz nehmen, ja, aber aus eigener Kraft dermaßen handfest und intensiv erscheinen?
Dieses Wesen zeigte sich offenbar gern, oder nicht? Natürlich. Deshalb hatten es ja so viele Leute schon zu Gesicht bekommen. Es hatte gern einen Körper, und wäre es nur für den Bruchteil einer Sekunde. Deshalb sprach es nicht einfach mit tonloser Stimme mit seiner Hexe oder machte ihr ein Bild von sich, das nur in ihrem Kopf existierte. Nein, es nahm irgend wie materielle Gestalt an, so daß auch andere es sehen und sogar hören konnten. Und mit großer, vielleicht mit sehr großer Anstrengung konnte es den Anschein erwecken, daß es weinte oder lächelte.
Was also war der Plan dieses Wesens? Kraft zu gewinnen, damit es sich immer dauerhafter und vollkommener manifestieren konnte? Und vor allem – was bedeutete der Fluch, der in Petyrs Brief gelautet hatte: »Ich werde den Wein des Weibes trinken, ihr Fleisch essen, ihre Wärme kennen, wenn nicht einmal deine Knochen mehr da sind«?
Und zuletzt: Warum folterte oder lockte es mich jetzt nicht? Hatte es Deirdres Energie benutzt, um sein Erscheinen zu bewerkstelligen, oder meine?
Vielleicht war es töricht, aber ich hatte das Gefühl, daß es mir nicht schaden konnte, solange ich nicht in Deirdres Nähe war. Was Petyr van Abel zugestoßen war, hatte sehr viel mit seinen medialen Kräften zu tun und mit der Art, wie das Wesen ihn manipuliert hatte. Ich besaß sehr wenig Kräfte dieser Art.
Aber es wäre ein schlimmer Fehler, dieses Wesen zu unterschätzen. Ich mußte von jetzt an auf der Hut sein.
Abends um acht kam ich in New Orleans an, und sofort ereigneten sich seltsame kleine Zwischenfälle. Vor der Union Station wurde ich um Haaresbreite von einem Auto überfahren. Das Taxi, mit dem ich zum Hotel fuhr, wäre beinahe mit einem anderen Wagen zusammengestoßen, als wir anhielten.
Einbildung, dachte ich. Aber als ich die Treppe zu meinem Zimmer im ersten Stock hinaufstieg, brach unter meiner Hand ein morscher Teil des alten Holzgeländers ab. Ich hätte beinahe das Gleichgewicht verloren. Der Page entschuldigte sich sofort. Eine Stunde später, ich war eben dabei, alles dies in mein Tagebuch einzutragen, brach im dritten Stock des Hotels ein Feuer aus.
Fast eine Stunde lang stand ich mit den anderen Hotelgästen voller Unbehagen in der engen Straße im French Quarter, ehe feststand, daß der kleine Brand gelöscht worden war, ohne daß größere Rauch- oder Wasserschäden entstanden waren. »Was war denn die Ursache?« fragte ich. Ein verlegener Angestellter brummte etwas von Gerümpel in einem Wandschrank und versicherte mir, es sei nun alles wieder in Ordnung.
Lange dachte ich über die Vorkommnisse nach. Eigentlich konnte alles reiner Zufall gewesen sein. Mir war nichts passiert, und auch den anderen an diesen kleinen Zwischenfällen Beteiligten nicht; jetzt war nötig, daß ich mir eine entschlossene Geistesverfassung bewahrte. Ich nahm mir vor, mich ein wenig langsamer durch die Welt zu bewegen, mich besser vorzusehen und mich zu bemühen, stets gewahr zu sein, was um mich herum vorging.
Die Nacht verging ohne weitere Mißgeschicke; ich schlief allerdings unruhig und wachte oft auf. Am Morgen nach dem Frühstück rief ich unsere Detektive in London an und beauftragte sie, einen texanischen Kollegen zu engagieren, der so diskret wie möglich über Deirdre Mayfair heraus finden solle, soviel er konnte.
Dann setzte ich mich hin und schrieb einen langen Brief an Cortland. Ich erklärte, wer ich war, wer die Talamasca war, und daß wir die Geschichte der Familie vom siebzehnten Jahrhundert an verfolgt hatten, als einer unserer Vertreter Deborah Mayfair aus
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