Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
Vom Netzwerk:
Verlegenheit und voller Widerwillen auf den Kanten ihrer Klappstühle gehockt. Sie wollte doch nicht wirklich, daß wir Blumen schicken, oder? Ein Edelstahlkreuz, Worte ohne Bedeutung, gesprochen von einem völlig Fremden.
    Oh, und diese Blumen! Wohin sie auch blickte, sah sie mächtige, blendende Schaumgebirge aus Rosen, Lilien, Gladiolen. Bei manchen Blumen kannte sie die Namen gar nicht. Zwischen kleinen, schnörkelbeinigen Stühlen saßen ganze Nester von ihnen, dicke Kränze auf Drahtgestellen, hinter den Stuhlreihen ebenfalls, und in der Ecke stapelten sie sich zu fünfen oder sechsen. Mit glitzernden Wassertröpfchen übersprüht bebten sie in der frostigen Luft, strotzend von weißen Bändern und Schleifen, und auf manchen Bändern stand sogar, in Silber aufgedruckt, der Name Deirdre. Deirdre.
    Plötzlich sah sie es überall, wohin sie auch blickte. Deirdre. Deirdre. Deirdre – unablässig riefen die Bänder lautlos den Namen ihrer Mutter, während die Damen in den hübschen Kleidern Weißwein aus langstieligen Gläsern tranken, und das kleine Mädchen mit der Schleife im Haar sie immer noch anstarrte. Und eine Nonne – sogar eine Nonne in dunkelblauem Kleid mit weißem Schleier und schwarzen Strümpfen – saß, über einen Stock gebeugt, auf der Kante eines Stuhles, und ein Mann sprach ihr ins Ohr, und sie hielt den Kopf schräg; und ihre kleine Hakennase schimmerte im Licht, und um sie herum drängten sich kleine Mädchen.
    Und ein solcher Duft stieg von all den Bouquets empor. Ellie hatte immer gesagt, die Blumen in Kalifornien dufteten nicht. Hier aber hing ein wunderbar süßes Parfüm im Raum. Jetzt verstand Rowan, was Ellie damals gemeint hatte. Der Duft war süß, wie die warme Luft draußen warm gewesen war und die feuchte Brise feucht. Es war, als würden all die Farben ringsherum immer lebhafter.
    Aber jetzt wurde ihr wieder übel, und der starke Duft machte es nur noch schlimmer. Der Sarg war so weit weg. Die Menge verdeckte ihn jetzt völlig. Sie dachte wieder an das Haus, das hohe dunkle Haus, »in der Stadt drüben, in der Ecke zum Fluß hin«, wie die Rezeptionistin im Hotel es beschrieben hatte. Es mußte das Haus sein, das Michael immer sah. Wenn es nicht Tausende davon gab, Tausende mit Rosenmustern in den schmiedeeisernen Zäunen und einer großen, dunklen Kaskade von Bougainvilleen, die über die verblichene graue Mauer herabflutete. Oh, ein so schönes Haus…
    Die Menge teilte sich plötzlich erneut, und sie sah die langgestreckte Flanke des Sarges. Sah sie auch das Profil einer Frau auf dem Satinkissen? Ellies Sarg war geschlossen gewesen. Bei Graham hatte keine Totenfeier stattgefunden. Seine Freunde hatten sich in einer Bar in der Stadt getroffen.
    Du wirst zu diesem Sarg hingehen müssen. Du wirst einen Blick hineinwerfen und sie anschauen müssen. Deshalb bist du ja gekommen, deshalb hast du mit Ellie und mit dem Papier im Safe gebrochen: um mit deinen eigenen Augen das Gesicht deiner Mutter zu sehen. Aber findet dies alles denn tatsächlich statt, oder träume ich? Schau doch das junge Mädchen an, das der alten Frau den Arm um die Schulter gelegt hat. Das weiße Kleid des Mädchens hat eine Schärpe! Und sie trägt weiße Strümpfe!
    Wenn nur Michael hier wäre. Das hier war Michaels Welt. Wenn Michael nur den Handschuh ausziehen und seine Hand auf die Hand der Toten legen könnte. Aber was würde er dann sehen? Einen Bestatter, der Einbalsamierungsflüssigkeit in ihre Adern spritzte! Oder das Blut, das über einen weißen Tisch in den Abfluß rieselte?
    Nun, worauf wartest du? Warum bewegst du dich nicht? Sie wich zurück, gegen den Türrahmen, und sah zu, wie eine alte, schon leicht ergraute Frau drei kleinen Kindern mit ausgebreiteten Armen entgegen ging. Eines nach dem anderen küßten sie die wabbelnden Wangen der alten Frau, und diese nickte mit dem Kopf. Gehören alle diese Leute zur Familie meiner Mutter?
    Wieder sah sie das Haus vor sich, bar aller Details, dunkel und phantastisch groß. Sie verstand, weshalb Michael dieses Haus liebte, diese Gegend. Und Michael wußte nicht, daß es das Haus ihrer Mutter war. Michael wußte nicht, daß dies alles hier passierte. Michael war fort. Und vielleicht würde es gar nichts weiter geben – nur dieses eine Wochenende und für alle Ewigkeit dieses unvollendete Gefühl…
    Die Tür hinter ihr öffnete sich. Stumm trat sie einen Schritt zur Seite. Ein älteres Paar ging an ihr vorbei, als wäre sie nicht da – eine stattliche

Weitere Kostenlose Bücher