Hexenstunde
jemanden hier kennen? Aber sie kannte ihn! Sie wußte, daß er Engländer war, wer immer er sein mochte, und sie wußte, wie seine Stimme klingen würde, wenn er mit ihr spräche.
Jerry Lonigan half ihr weiter. Der gutaussehende Pierce stand neben ihr. »Ihr ist übel, Monty«, sagte die hübsche alte Frau. »Hol ihr ein Glas Wasser.«
»Honey, vielleicht solltest du dich setzen…«
Sie schüttelte den Kopf, und ihre Lippen formten das Wort nein. Noch einmal sah sie den weißhaarigen Engländer an, der neben der betenden Frau stand. Die Frau weinte und putzte sich die Nase, und der weißhaarige Mann sprach flüsternd mit ihr, aber sein Blick fixierte Rowan. Ich kenne Sie. Er sah sie an, als hätte sie ihn angesprochen, und dann fiel es ihr ein: der Friedhof in Sonoma County, wo Graham und Ellie begraben waren: Das war der Mann, den sie damals dort am Grab gesehen hatte. Ich kenne Ihre Familie in New Orleans. Und ganz unverhofft fügte sich noch ein weiteres Puzzlesteinchen an seinen Platz. Dies war der Mann, der vorgestern abend vor Michaels Haus in der Liberty Street gestanden hatte.
»Möchten Sie ein Glas Wasser?« fragte Jerry Lonigan.
Aber wie war das möglich? Wie konnte der Mann dort gewesen sein und jetzt hier, und was hatte das alles mit Michael zu tun?
Pierce erbot sich, um einen Stuhl zu holen. »Sie soll sich hinsetzen.«
Sie mußte weitergehen. Sie konnte jetzt nicht einfach stehen bleiben und den weißhaarigen Engländer anstarren und von ihm verlangen, daß er sich erklärte, daß er erklärte, was er in der Liberty Street gesucht habe. Und aus dem Augenwinkel sah sie etwas, dessen Anblick sie nicht ertragen konnte, etwas, das im Sarg auf sie wartete.
»Hier, Rowan. Das ist schön kalt.« Der Duft von Wein. »Trink einen Schluck, Darling.«
Das würde ich gern tun, wirklich, aber ich kann den Mund nicht bewegen. Sie schüttelte den Kopf, versuchte zu lächeln. Ich glaube, ich kann auch meine Hand nicht bewegen. Und ihr erwartet doch alle, daß ich mich bewege; ich sollte es also wirklich tun. Sie hatte Ärzte, die bei einer Autopsie in Ohnmacht fielen, eigentlich immer albern gefunden. Wie konnte so eine Sache eine solche physische Auswirkung haben? Wenn man mich mit einem Baseballschläger schlägt, dann gehe ich vielleicht zu Boden. O Gott, was du alles noch nicht weißt vom Leben – das wird mir erst jetzt in diesem Raum allmählich klar. Und deine Mutter liegt da im Sarg.
Was hast du gedacht? Daß sie hier warten würde, lebendig, bis du kommst? Bis dir endlich klar wird… Hier unten, in diesem fremden Land! Ja, es ist doch wie ein anderes Land, oder etwa nicht?
Der weißhaarige Engländer kam auf sie zu. Ja, wer bist du? Warum bist du hier? Warum bist du auf so dramatische und groteske Weise fehl am Platz? Andererseits war er es gar nicht. Er war genau wie alle anderen hier, diese Bewohner eines fremden Landes – so sittsam und so sanft. Nicht ein Hauch von Ironie oder Befangenheit oder vorgetäuschtem Gefühl in seinem gütigen Gesicht. Er trat dicht an sie heran und veranlaßte sanft den gutaussehenden jungen Mann, Platz zu machen.
Sie schlug die Augen nieder. Blumenberge zu beiden Seiten der samtgepolsterten Kniebank. Sie ging weiter, und ihre Fingernägel gruben sich in Mr. Lonigans Hand, ehe sie es verhindern konnte. Sie bemühte sich, ihren Griff zu lockern, und zu ihrem grenzenlosen Erstaunen merkte sie, daß sie gleich fallen würde. Der Engländer packte ihren linken Arm. Mr. Lonigan hielt den rechten fest umklammert. »Rowan, hören Sie«, sagte der Engländer ihr mit seinem präzisen und doch melodischen Akzent leise ins Ohr. »Michael wäre auch hier, wenn er könnte. Ich bin an seiner Stelle gekommen. Michael kommt heute abend. Sobald er kann.«
Erschrocken sah sie ihn an, und die Erleichterung überfiel sie fast wie ein Schauder. Michael kam. Michael war irgendwo in der Nähe. Aber wie konnte das sein?
»Ja, er ist ganz in der Nähe und leider aus schwerwiegenden Gründen verhindert«, sagte er so aufrichtig, als hätte er diese Wörter erfunden, »und er bedauert es ehrlich, daß er nicht hier sein kann…«
Sie sah das trübe, dunkle, konturlose Haus in der First Street wieder, das Haus, von dem Michael die ganze Zeit geredet hatte. Und als sie ihn im Wasser entdeckt hatte, da hatte er ausgesehen wie ein winziger Fleck aus Kleidern, die an der Oberfläche schwammen, das kann doch kein Ertrunkener sein, nicht hier draußen, meilenweit vom Land entfernt…
»Was
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