Hexenstunde
Frau in einem tadellosen Seidenkostüm, die ihr wunderschönes eisengraues Haar hinten zu einer Art Knoten zusammengebunden hatte, und ein Mann in einem zerknautschten weißen Anzug, mit dickem Hals und sanfter Stimme; er sprach mit der Frau.
»Beatrice!« rief jemand grüßend, und ein gutaussehender junger Mann kam der Frau mit dem eisengrauen Haar entgegen und gab ihr einen Kuß. »Darling, tritt näher«, sagte eine Frauenstimme. »Nein, niemand hat sie bis jetzt gesehen, aber sie muß jeden Augenblick kommen.« Die Stimmen klangen wie Michaels und doch anders. Zwei Männer, die sich flüsternd über ihre Weingläser hinweg unterhielten, schoben sich zwischen sie und das Paar, als sie den nächsten Raum betraten. Wieder öffnete sich die Eingangstür. Ein Schwall von heißer Luft, Verkehrslärm.
Sie ging hinüber in die andere Ecke, und jetzt sah sie den Sarg in seiner vollen Breite; sie sah, daß der halbe Deckel über dem Unterkörper der Frau geschlossen war, und sie wußte nicht, warum ihr das grotesk vorkam. Ein Kruzifix stand über dem Kopf der Frau in der gerüschten Seide – nicht, daß sie den Kopf hätte sehen können, aber sie wußte, daß er da war: Sie sah einen hautfarbenen Schimmer vor dem strahlenden Weiß. Geh schon, Rowan, geh hin.
Ist das schwieriger, als einen Operationssaal zu betreten? Natürlich werden sie dich alle sehen, aber sie werden nicht wissen, wer du bist. Dann kamen die Beklemmungen wieder, ihre Muskeln spannten sich in Hals und Gesicht. Sie konnte sich nicht rühren.
Dann sprach jemand sie an, und sie wußte, sie mußte jetzt den Kopf drehen und antworten. Aber sie tat es nicht. Das kleine Mädchen mit dem Band im Haar beobachtete sie. Warum antwortete sie nicht? dachte das kleine Mädchen.
»… Jerry Lonigan. Kann ich Ihnen helfen? Sie sind doch nicht Dr. Mayfair, oder?«
Sie sah ihn stupide an. Schwere Hängebacken und wunderhübsche porzellanblaue Augen. Nein, wie blaue Murmeln waren sie, die Augen: makellos rund und blau.
»Dr. Mayfair?«
Sie schaute hinunter auf seine Hand. Eine große, schwere Pranke. Nimm sie. Antworte so, wenn du nicht reden kannst. Die Anspannung in ihrem Gesicht wurde schlimmer. Sie drang bis zu ihren Augen. Rowan deutete mit einer kleinen Kopfbewegung auf den fernen Sarg. Ich möchte… Aber kein Wort kam aus ihrem Mund. Komm schon, Rowan, dafür bist du zweitausend Meilen geflogen.
Der Mann legte den Arm um sie. Ein leichter Druck auf ihrem Rücken. »Sie möchten sie sehen, Dr. Mayfair?«
Sie sehen, mit ihr sprechen, sie kennen, sie lieben, von ihr geliebt werden… Ihr Gesicht fühlte sich an wie aus Eis gemeißelt. Und ihre Augen waren unnatürlich geweitet; das wußte sie.
Sie blickte ihm in die kleinen blauen Augen und nickte. Es war, als seien plötzlich alle verstummt. Hatte sie so laut gesprochen? Aber sie hatte doch gar nichts gesagt. Bestimmt wußten sie nicht, wie sie aussah, und trotzdem drehten sich jetzt alle nach ihr um, als sie mit diesem Mann in den Raum trat.
Sogar die Kinder hatten aufgehört zu spielen. Der Raum schien sich zu verdunkeln, als alle langsam und lautlos beiseite traten – doch nur ein paar Schritte.
»Möchten Sie sich setzen, Dr. Mayfair?« fragte Mr. Lonigan.
Sie starrte auf den Teppich. Der Sarg war fünf Schritt weit entfernt. Nicht aufblicken, dachte sie, nicht aufblicken, bis du wirklich am Sarg stehst. Nur nicht von weitem etwas Schreckliches sehen. Aber was war denn hier so schrecklich? Wie konnte das hier schlimmer sein als ein Autopsie-Tisch, außer, daß dies hier… ihre Mutter war.
Eine Frau trat hinter das kleine Mädchen mit der Haarschleife und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Rowan? Rowan, ich bin Alicia Mayfair. Ich bin Deirdres Cousine vierten Grades. Das ist Mona, meine kleine Tochter.«
»Rowan, ich bin Pierce Mayfair«, sagte der gutaussehende junge Mann zu ihrer Rechten und streckte unvermittelt die Hand aus. »Ich bin Cortlands Urenkel.«
»Darling, ich bin Beatrice, deine Cousine.« Ein Hauch von Parfüm. Die Frau mit dem eisengrauen Haar. Weiche Haut an Rowans Wange. Riesige graue Augen.
»… Cecilia Mayfair, Barclays Enkelin; mein Großvater war Juliens Zweitgeborener im Haus in der First Street, und hier – Schwester, komm -, das ist Schwester Marie Claire. Schwester, das ist Rowan, das ist Deirdres Tochter!«
»…Timothy Mayfair, dein Cousin vierten Grades, wir freuen uns, dich zu sehen, Rowan…«
»… schön, dich zu sehen bei diesem
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