Hexenstunde
sehr beredte Äußerung, aber da es mehr als wahrscheinlich ist, daß der College-Professor nie existiert hat, welche andere Bedeutung können wir Deirdres Worten dann zumessen? War es Lasher, der Cortland die Treppe hinuntergestoßen oder ihn so heftig erschreckt hatte, daß er von allein gefallen war? Und wenn ja, warum?
Dies ist im eigentlichen Sinne das Lebensende von Deirdre Mayfair. Siebzehn Jahre lang blieb sie in verschiedenen psychiatrischen Anstalten eingekerkert; man verabreichte ihr Medikamente in massiven Dosen und überzog sie rücksichtslos mit Elektroschockbehandlungen. Es waren ihr nur kurze Ruhezeiten vergönnt, wenn sie nach Hause kam – der Geist des Mädchens, das sie einmal gewesen war.
1976 wurde sie schließlich für immer in die First Street zurückgebracht, eine stumme Invalidin mit weit offenen Augen, in einem immerwährenden Zustand der Wachsamkeit, aber ohne zusammenhängende Erinnerungen.
»Ihre Erinnerung reicht nicht einmal von einem Augenblick zum nächsten«, sagte ein Psychiater. »Sie lebt völlig in der Vergangenheit, und zwar auf eine Weise, die wir uns einfach nicht vorstellen können. Man könnte sagen, da ist überhaupt kein Verstand mehr vorhanden.« Es ist ein Zustand, wie man ihn bei manchen sehr alten Menschen beschreibt, die ihn bei fortgeschrittener Senilität erreichen und die starren Blicke in den geriatrischen Kliniken der ganzen Welt sitzen.
Wie wurde Deirdre Mayfair zu dieser »besinnungslosen Idiotin«, wie man sie im Irish Channel nannte, die »wie ein hübsches Bund Mohren« auf ihrem Sessel saß? Die Schockbehandlungen trugen sicher dazu bei; Serie um Serie hatte sie bekommen, in jeder Klinik, in der sie seit 1959 gewesen war. Dann die Medikamente – massive Dosen beinahe paralysierender Beruhigungsmittel -, die sie in erstaunlichen Kombinationen erhielt, wie uns wenigstens die Akten offenbaren, die uns nach und nach zugänglich werden.
Wie rechtfertigte man eine solche Behandlung? Deirdre Mayfair hörte schon 1962 auf, zusammenhängend zu sprechen. Wenn sie nicht sediert war, schrie oder weinte sie unaufhörlich. Ab und zu zerbrach sie etwas. Manchmal fiel sie einfach auf den Rücken, drehte die Augen in die Höhlen und heulte.
Im Laufe der Jahre haben wir immer mehr Informationen über Deirdre Mayfair gesammelt. Etwa einmal im Monat gelingt es uns, einen Arzt oder eine Schwester oder sonst eine Person, die im Haus in der First Street gewesen ist, zu »interviewen«. Aber unsere Unterlagen über das, was sich wirklich zugetragen hat, bleiben bruchstückhaft. Krankenakten sind selbstverständlich vertraulich, und es ist extrem schwierig, Einblick in sie zu bekommen. Aber wir wissen inzwischen, daß in mindestens zwei der Sanatorien, in denen Deirdre behandelt wurde, überhaupt keine Akten über ihre Behandlung existieren.
Einer der Ärzte hat ganz offenbar – und nach eigenem Eingeständnis einem neugierigen Fremden gegenüber – seine Akten zu Deirdres Fall vernichtet. Ein anderer, der kurz, nachdem er Deirdre behandelt hatte, in Pension ging, hinterließ nur ein paar kryptische Notizen in einer dünnen Akte. »Unheilbar. Tragisch. Tante verlangt ständige Medikation; Verhaltensbeschreibungen durch Tante allerdings nicht glaubhaft.«
Wir sind in unserer Bewertung der Geschichte Deirdres aus offensichtlich Gründen weiterhin auf anekdotisches Material angewiesen.
Obwohl Deirdre ihr ganzes Erwachsenenleben von Drogen betäubt dahindämmerte, ist in ihrer Umgebung zahllose Male ein mysteriöser »braunhaariger Mann« gesichtet worden. Schwestern in der Anstalt von St. Ann’s wollten ihn gesehen haben – »da ging ein Mann in ihr Zimmer! Ich weiß, was ich gesehen habe!« In einer Klinik in Texas, in der sie für kurze Zeit eingekerkert war, behauptete ein Arzt »einen geheimnisvollen Besucher« gesehen zu haben, der »immer irgend wie gerade dann zu verschwinden schien, wenn ich ihn zur Rede stellen oder ihn fragen wollte, wer er war«.
Die meisten Handwerker können in dem Haus in der First Street heute ebenso wenig arbeiten wie damals, als Deirdre noch ein kleines Mädchen war. Es sind immer die gleichen alten Geschichten. Man munkelt sogar von einem »Mann dort irgendwo«, der nicht wolle, daß etwas gemacht werde.
Der alte Gärtner kommt noch, und gelegentlich streicht er den rostigen Zaun an.
Ansonsten schlummert die First Street unter den Ästen der Eichen. Die Frösche singen nachts an Stellas Pool zwischen Lilienbeeten und wilder Iris.
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