Hexenstunde
Aber als sie im Foyer von Lonigan und Söhne für einen Augenblick still stehenblieb, unbeobachtet und unerkannt, merkte sie, daß ihr von der Hitze bereits ein wenig übel geworden war. Der eisige Luftstrom war jetzt wie ein Schock. Ein Frösteln überlief sie, wie man es spürt, wenn man Fieber hat. Die enorme Menschenmenge, nur wenige Schritte weit entfernt, war plötzlich von wunderlich traumhafter Beschaffenheit.
Von da, wo sie stand, konnte sie nicht in den Sarg blicken. Er war an der hinteren Wand des Nachbarraumes aufgebahrt. Während die Versammlung geräuschvoll hierhin und dorthin wogte, erhaschte sie einen gelegentlichen Blick auf das dunkel polierte Holz, die silbernen Griffe und den gerüschten Satin im offenen Deckel.
Sie fühlte, wie ihre Gesichtsmuskeln sich unwillkürlich spannten. Sie liegt in dem Sarg da, dachte sie. Du mußt durch diesen Raum und durch den nächsten Raum gehen und hineinschauen. Ihr Gesicht fühlte sich so sonderbar starr an. Auch ihr Körper fühlte sich starr an. Geh nur hin zum Sarg. Tut man das nicht?
Sie konnte sehen, daß die Leute es taten. Sie konnte sehen, wie sie einer nach dem anderen dicht an den offenen Sarg herantraten und auf die Frau darin hinunterschauten.
Und früher oder später würde sie doch jemand bemerken. Früher oder später würde sie jemand ansprechen. »Sagen Sie’s mir. Wer sind all diese Leute? Weiß das jemand? Welche ist Rowan Mayfair?«
Aber vorläufig war sie noch unsichtbar und konnte sie beobachten: die Männer in ihren hellen Anzügen, die Frauen in den hübschen Kleidern. So viele von ihnen trugen Hüte und sogar Handschuhe. Jahre war es her, daß sie Frauen in bunten Kleidern gesehen hatte, mit Gürteln um die Taillen und weichen, weiten Röcken. Es mußten an die zweihundert Leute sein, die hier umherwanderten, und es waren Leute aller Altersgruppen.
Sie sah glatzköpfige alte Männer mit rosiger Kopfhaut in weißen Leinenanzügen, mit Spazierstöcken in der Hand, und Jungen, denen ihre engen Hemdkragen und Krawatten ein leises Unbehagen bereiteten. Die Nacken der alten wie der jungen Männer sahen gleichermaßen entblößt und verwundbar aus. Auch kleine Kinder spielten zwischen den Erwachsenen; Babys in weißer Spitze hüpften auf dem Schoß der Großen, und andere krabbelten auf dem dunkelroten Teppich herum.
Und da war ein Mädchen, vielleicht zwölf Jahre alt; es starrte sie an und hatte ein Band im Haar. Noch nie in all den Jahren in Kalifornien hatte sie ein Mädchen dieses Alters – oder überhaupt ein Kind – mit einem echten Band im Haar gesehen, und das hier war eine große Schleife aus pfirsichfarbenem Satin.
Alle in ihrem Sonntagsstaat, dachte sie – sagte man nicht so? Und die Konversation hatte beinahe etwas Festliches. Wie auf einer Hochzeit kam sie sich plötzlich vor, obwohl sie noch nie auf einer solchen Hochzeit gewesen war, wie sie sich eingestehen mußte. Fensterlos war dieser Raum; allerdings hingen hier und da weiße Damast-Vorhänge, die völlig verbargen, was vielleicht Fenster waren.
Die Menge wogte, teilte sich wieder, so daß sie den Sarg nun beinahe vollständig sehen konnte. Ein zierlicher alter Mann in einem grauen Baumwollkrepp-Anzug stand allein davor und blickte auf die tote Frau hinunter. Mit großer Beschwerlichkeit ließ er sich auf die samtbezogene Kniebank sinken. Wie hatte Ellie diese Dinger noch genannt? Ich möchte einen Prie-Dieu an meinem Sarg haben. Rowan hatte auch im Leben noch keinen Baumwollkrepp-Anzug gesehen. Aber sie wußte, daß es einer war, denn sie kannte sie aus dem Kino – in den alten Schwarzweißfilmen, in denen der Ventilator kreiste und der Papagei auf seiner Stange gluckste und Sidney Greenstreet etwas Unheimliches zu Humphrey Bogart sagte.
Und genauso war es hier. Nicht, was das Unheimliche anging, aber der zeitliche Rahmen war der gleiche. Sie war in die Vergangenheit zurück gereist, in eine Welt, die in Kalifornien längst unter der Erde vergraben war. Vielleicht war es deshalb so unerwartet tröstlich hier – ganz wie in jener Folge von »Twilight Zone«, in der der gehetzte Geschäftsmann dem Vorortzug entsteigt und plötzlich in einer Kleinstadt steht, die glücklich im geruhsamen neunzehnten Jahrhundert liegt.
Unsere Beerdigungen in New Orleans waren so, wie sie sein sollten. Sag meinen Freunden, sie sollen kommen. Aber Ellies strenge, unbehagliche Totenandacht war völlig anders verlaufen: Klapperdürre, sonnengebräunte Freunde hatten in tödlicher
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