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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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noch nie gesehen haben. Und wenn du mit deiner Macht etwas Böses getan hast, dann bist du in rechtschaffener Verurteilung deiner selbst davor zurückgewichen, und deine Scham hat dich zu noch größerer Selbstaufopferung getrieben.«
    »Woher weißt du das alles?«
    »Ich kann es sehen. Was ich sehe, ist nicht präzise, aber ich sehe es. Ich sehe das Böse, auch wenn ich die Taten an sich nicht sehen kann: Sie sind verdeckt von Scham und Schuldgefühlen, die sie zugleich erst erkennbar machen.«
    »Was willst du dann von mir? Eine Beichte? Du hast selbst gesagt, ich hätte mich abgewandt von dem Bösen, das ich getan habe.«
    »›Du sollst nicht töten!‹« wisperte die Frau.
    Roher Schmerz durchzuckte Rowan wie ein Schock, und dann sah sie verblüfft, wie die Frau die Augen aufriß und sie spöttisch nachäffte. Verwirrt durchschaute Rowan den Trick, und sie fühlte sich wehrlos. Denn für einen Sekundenbruchteil hatte die alte Frau mit ihren Worten in Rowans Geist genau jenes Bild hervorgerufen, nach dem sie gesucht hatte.
    Du hast getötet. In Wut und Zorn hast du Menschenleben genommen. Du hast es willentlich getan. So stark bist du.
    Rowan sank in sich zusammen, und sie spähte auf die flachen, runden Brillengläser, die das Licht einfingen und es wieder losließen, und auf die dunklen, kaum sichtbaren Augen dahinter.
    »Habe ich dich etwas gelehrt?« fragte die Frau.
    »Du stellst meine Geduld auf eine harte Probe«, erwiderte Rowan. »Ich darf dich daran erinnern, daß ich dir nichts getan habe. Ich bin nicht gekommen, um von dir Rechenschaft zu verlangen. Ich habe niemanden verurteilt. Ich bin nicht hier, um Ansprüche auf diesen Schmuck oder das Haus oder irgend etwas darin zu erheben. Ich bin hier, um zu sehen, wie meine Mutter zur Ruhe gebettet wurde, und ich bin zu dieser Haustür hereingekommen, weil du mich darum gebeten hast. Und ich bin hier, um dir zuzuhören. Aber ich werde nicht viel länger mit mir spielen lassen. Nicht für alle Geheimnisse auf dieser Seite der Hölle. Und ich habe keine Angst vor deinem Geist, und wenn er einen Schwanz wie ein Erzengel vor sich hertragen sollte.«
    Die alte Frau starrte sie einen Moment lang an. Dann hob sie die Brauen und lachte – ein kurzes, plötzliches Auflachen mit einem überraschend femininen Unterton. Danach lächelte sie. »Wohl gesprochen, meine Liebe«, sagte sie. »Vor fünfundsiebzig Jahren erzählte meine Mutter mir, er könne die griechischen Götter vor Neid erblassen lassen, so schön sei er, wenn er zu ihr ins Schlafzimmer komme.« Sie entspannte sich langsam auf ihrem Stuhl, spitzte die Lippen, lächelte dann wieder. »Aber er hat sie nie von ihren hübschen sterblichen Männern abhalten können. Sie mochte die gleiche Art Männer wie du.«
    »Das hat Ellie dir auch erzählt?«
    »Sie hat mir vieles erzählt. Aber daß sie krank war, hat sie mir nie erzählt. Daß sie sterben würde, hat sie nie gesagt.«
    »Wenn Leute sterben müssen, bekommen sie Angst«, sagte Rowan. »Sie sind dann ganz allein. Niemand kann für sie sterben.«
    Die alte Frau senkte den Blick. Lange Zeit saß sie regungslos da; dann bewegten sich ihre Hände wieder über die weiche Rundung des Schmuckkästchens, und sie ergriff es und ließ den Deckel aufschnappen. Sie drehte das Kästchen behutsam um, so daß sich das Kerzenlicht in dem Smaragd verfing, der darin lag, eingebettet in ein Knäuel von goldenen Kettengliedern. Es war der größte Edelstein, den Rowan je gesehen hatte.
    »Ich habe immer vom Tod geträumt«, sagte Carlotta. »Ich habe darum gebetet.« Langsam schaute sie auf und maß Rowan mit ihren Blicken, und wieder weiteten ihre Augen sich, und die zarte, dünne Haut ihrer Stirn runzelte sich stark über den grauen Augenbrauen. Ihre Seele war verschlossen und in Traurigkeit versunken; es war, als habe sie für einen Augenblick vergessen, sich hinter Bosheit und Cleverneß vor Rowan zu verschanzen.
    »Komm«, sagte sie und raffte sich auf. »Ich will dir zeigen, was ich dir zu zeigen habe. Ich glaube nicht, daß noch viel Zeit ist.«
    »Warum sagst du das!« flüsterte Rowan drängend. Irgend etwas an der veränderten Haltung der alten Frau versetzte sie in Angst und Schrecken. »Warum schaust du mich so an?«
    Die Frau lächelte nur. »Komm«, sagte sie. »Nimm eine Kerze mit, wenn du willst. Ein paar Lampen brennen noch. Bei anderen sind die Glühbirnen kaputt, oder die Drähte sind vor langer Zeit spröde geworden und abgebrochen. Komm mit.«
    Sie

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