Hexenstunde
deine Urgroßmutter. Stella.«
Rowan hatte das Gefühl, als grinse die kleine Puppe sie an. Jemand hatte die schwarzen Haare mit Leim an den Kopf geklebt. Knochen ragten unter dem Saum des kleinen, schlauchförmigen Seidenkleides hervor.
»Woher stammen die Knochen?«
»Von Stella.«
Rowan griff in den Koffer und zuckte dann zurück; ihre Finger krümmten sich. Sie brachte es nicht über sich, die Puppe anzufassen. Zögernd hob sie eine Ecke des Nesseltuchs und fand eine weitere Lage; aber hier verwandelten die Puppen sich zusehends in Staub; sie waren tief in den Stoff eingesunken und würden sich wahrscheinlich nicht mehr, ohne Schaden zu nehmen, herausheben lassen. »Die ältesten stammen noch aus Europa. Faß nur hinein. Nimm die älteste Puppe. Kannst du sehen, welche es ist?«
»Das ist hoffnungslos. Sie wird zerfallen, wenn ich sie anfasse. Außerdem weiß ich auch nicht, welche es ist.« Sie ließ das Tuch zurücksinken und strich die obere Lage mit spitzen Fingern glatt. Und als ihre Finger die Knochen berührten, spürte sie eine jähe, erschütternde Vibration, und es war, als blitze ein grelles Licht vor ihren Augen auf. Ihr Geist registrierte die medizinischen Befunde… temporale Stirnlappenstörung, Anfallerscheinungen. Aber die Diagnose erschien töricht, sie gehörte in eine andere Welt.
Sie starrte in die kleinen Gesichter.
»Wer hat diese… Dinger gemacht?«
»Sie haben sie alle gemacht, immer schon. Cortland schlich sich nachts hinunter und schnitt meiner Mutter Mary Beth den Fuß ab, als sie im Sarg lag. Cortland hat auch die Knochen von Stella geholt. Stella wußte, was er tun würde; deine Großmutter, Antha, war zu klein dafür.«
Rowan schauderte es. Sie ließ den Deckel des Koffers niedersinken, nahm vorsichtig die Lampe, stand auf und klopfte sich den Staub von den Knien. »Dieser Cortland – der Mann, der das getan hat, wer war das? Doch nicht der Großvater von dem Ryan, der auf der Beerdigung war?«
»Doch, meine Liebe, genau der«, sagte die alte Frau. »Cortland, der Schöne. Cortland, der Böse. Cortland, das Werkzeug dessen, der diese Familie seit Jahrhunderten führt. Cortland, der deine Mutter vergewaltigte, als sie sich hilfesuchend an ihn klammerte. Ich meine den Mann, der sich mit Stella paarte, um Antha zu zeugen, die dann Deirdre zur Welt brachte, die wiederum dich von ihm empfing, seine Tochter und Urenkelin.«
Rowan stand regungslos da und versuchte, sich dieses Geflecht von Geburten und widernatürlichen Zeugungen vorzustellen.
»Und wer hat aus meiner Mutter eine Puppe gemacht?« fragte sie, und sie starrte in das Gesicht der alten Frau, das gespenstisch aussah, als das Licht der Lampe darauf spielte.
»Noch niemand. Es sei denn, du selbst hättest Lust, auf den Friedhof zu gehen und den Stein loszuschrauben und ihre Hände aus dem Sarg zu nehmen. Glaubst du, du könntest das tun? Er wird dir helfen, weißt du – der Mann, den du schon gesehen hast. Er wird kommen, wenn du den Smaragd anlegst und ihn rufst.«
»Du hast keinen Grund, mir weh zu tun«, sagte Rowan. »Ich habe nichts damit zu tun.«
»Ich sage dir nur, was ich weiß. Schwarze Magie war ihr Spiel. Schon immer. Ich sage dir, was du wissen mußt, um deine Wahl zu treffen. Würdest du dich vor diesem Dreck verbeugen? Würdest du es fortführen? Würdest du diese elenden Drecksdinger aufheben und die Geister der Toten anrufen, auf daß alle Teufel in der Hölle mit dir Püppchen spielen können?«
»Ich glaube nicht daran«, sagte Rowan. »Und ich glaube auch nicht, daß du daran glaubst.«
»Ich glaube, was ich gesehen habe. Ich glaube, was ich fühle, wenn ich sie anrühre. Sie sind mit dem Bösen getränkt, wie Reliquien mit Heiligkeit getränkt sind. Aber die Stimmen, die durch sie sprechen, sind allesamt seine Stimme, die Stimme des Teufels. Glaubst du nicht, was du gesehen hast, als er zu dir kam?«
»Ich habe einen Mann mit dunklen Haaren gesehen. Es war kein menschliches Wesen. Es war eine Art Halluzination.«
»Es war Satan. Er wird dir sagen, es sei nicht so. Er wird dir einen wunderbaren Namen nennen. Seine Reden werden Poesie sein. Aber er ist der Teufel in der Hölle, und zwar aus einem schlichten Grund: Er lügt und er zerstört, und für seine Zwecke wird er dich und deine Nachkommenschaft zerstören, wenn er kann, denn auf seine Zwecke kommt es ihm an.«
»Und was sind seine Zwecke?«
»Er will leben, wie wir leben. Er will herauskommen und sehen und fühlen, was wir sehen
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