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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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Hause, die die Macht hatte. Drei Generationen vorher war ich diejenige, die für den Smaragd bestimmt war. Ich habe ihn gesehen, als ich drei Jahre alt war, so klar und so stark, daß er seine warme Hand in meine schieben konnte, daß er mich in die Höhe heben konnte, ja, meinen ganzen Körper – aber ich wies ihn ab. Ich wandte ihm den Rücken zu. Ich sagte zu ihm: Geh zurück in die Hölle, aus der du gekommen bist. Und ich benutzte meine Macht, um gegen ihn zu kämpfen.«
    »Und dieser Anhänger… Ich bekomme ihn, weil ich ihn sehen kann?«
    »Du bekommst ihn, weil du das einzige Mädchen bist und weil niemand eine Wahl hat. Du würdest ihn auf jeden Fall bekommen, und wenn deine Kräfte noch so gering wären. Aber darauf kommt es nicht mehr an. Denn sie sind stark, sehr stark, und sie sind es immer gewesen.« Sie schwieg und betrachtete Rowan von neuem. Für einen Augenblick war ihre Miene unergründlich und vielleicht überhaupt frei von jedem Urteil. »Unpräzise, ja, und inkonsequent, natürlich. Unbeherrscht, vielleicht – aber stark.«
    »Du darfst diese Dinge nicht überschätzen«, erwiderte Rowan leise. »Ich tue es nie.«
    »Vor langer Zeit hat Ellie mir alles darüber erzählt«, sagte die alte Frau. »Ellie hat mir erzählt, du könntest Blumen verwelken lassen. Ellie hat mir erzählt, du könntest Wasser zum Kochen bringen. ›Sie ist eine mächtigere Hexe, als Antha es je war. Oder Deirdre«, hat sie gesagt, und sie hat geweint und mich um Rat angefleht, was sie denn tun könnte! ›Halte sie fern‹, habe ich gesagt. ›Sorge dafür, daß sie nie nach Hause kommt und daß sie es nie erfährt! Sorge dafür, daß sie nie lernt, es zu benutzen.‹«
    »Ich will ja nicht zornig auf dich sein«, sagte Rowan mit dünner Stimme. »Ich will nur verstehen, was du da sagst. Ich will verstehen, warum ich weggebracht wurde…«
    Wieder versank die alte Frau in nachdenklichem Schweigen. Ihre Finger schwebten über dem Schmuckkästchen, senkten sich dann darauf hinunter und lagen still. Viel zu groß war die Ähnlichkeit mit den schlaffen Händen Deirdres im Sarg.
    Rowan wandte den Blick ab. Sie schaute auf die hintere Wand, auf das Panorama eines gemalten Himmels über dem Kamin.
    »Oh, bringen dir diese Worte denn nicht den leisesten Trost? Hast du dich nicht all die Jahre gefragt, ob du die einzige auf der Welt bist, die anderer Leute Gedanken lesen kann, die einzige, die weiß, wann jemand in ihrer Umgebung stirbt? Die einzige, die einen Menschen mit der Kraft ihrer Wut von sich stoßen kann? Sieh dir die Kerzen an. Du kannst sie verlöschen und wieder aufflammen lassen. Tu’s doch.«
    Rowan starrte in die Flämmchen. Sie fühlte, daß sie zitterte. Wenn du nur wüßtest, wenn du wirklich wüßtest, was ich jetzt mit dir machen könnte…
    »Aber ich weiß es ja, verstehst du? Ich kann deine Kraft fühlen, weil auch ich stark bin, stärker als Antha oder Deirdre. Deshalb habe ich sie so lange in Schach halten können in diesem Hause, und deshalb habe ich ihn daran gehindert, mir etwas anzutun. Deshalb habe ich ungefähr dreißig Jahre zwischen ihn und Deirdres Tochter legen können. Laß die Kerzen ausgehen. Zünde sie wieder an, ich will sehen, wie du es tust.«
    »Ich will es nicht tun. Und ich will, daß du aufhörst, mit mir zu spielen. Sag mir, was du mir zu sagen hast. Aber laß die Spielchen. Sag mir, wer er ist und warum du mich meiner Mutter weggenommen hast.«
    »Aber das habe ich doch gesagt. Ich habe dich weggebracht, um dich von ihm wegzubringen und von diesem Smaragd, von diesem Vermächtnis aus Flüchen und einem Reichtum, der auf seinem Eingreifen und seiner Macht gründet.« Sie musterte Rowan und sprach dann weiter; ihre Stimme klang jetzt dunkler, verlor aber nichts von ihrer Präzision. »Ich habe dich ihr weggenommen, um ihren Willen zu brechen und um ihr eine Krücke zu nehmen, auf die sie sich gestützt, ein Ohr, dem sie ihre arme, gemarterte Seele anvertraut hätte, eine Gefährtin, die sie verbogen und verdreht hätte in all ihrer jämmerlichen Schwäche.«
    Rowan war starr vor Zorn und antwortete nicht. Vor ihrem geistigen Auge sah sie voller Trauer die schwarzhaarige Frau in ihrem Sarg. Sie sah den Lafayette-Friedhof im Geiste, von der Nacht umhüllt jetzt, still und verlassen.
    »Dreißig Jahre hast du Zeit gehabt, um stark und aufrecht zu werden, weit weg von diesem Haus, weit weg von dieser Geschichte des Bösen. Und was bist du geworden? Eine Ärztin, wie sie deine Kollegen

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