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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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Kerzen«, sagte die alte Frau. »Ich bin inzwischen zu alt, um hinaufzuklettern und sie auszuwechseln. Und Eugenia ist auch zu alt. Sie kann es nicht.« Mit einer winzigen Bewegung ihres Kopfes deutete sie in die hintere Ecke des Raumes.
    Erschrocken erkannte Rowan, daß dort eine schwarze Frau stand, eine schemenhafte Gestalt mit schütterem Haar, gelben Augen und verschränkten Armen, anscheinend sehr mager, aber das war im Dunkeln schwer zu sagen. Von ihrer Kleidung war nur eine schmutzige Schürze zu erkennen.
    »Du kannst jetzt gehen, Liebes«, sagte Carlotta zu der Schwarzen. »Es sei denn, meine Nichte möchte etwas trinken. Aber das möchtest du nicht, oder, Rowan?«
    »Nein. Nein, vielen Dank, Miss Mayfair.«
    »Sag Carlotta zu mir, oder Carl, wenn du willst; es kommt nicht darauf an. Miss Mayfairs gibt es wie Sand am Meer.«
    Die alte Schwarze entfernte sich, am Kamin vorbei, um den Tisch herum, zur Tür hinaus in den langen Korridor. Carlotta beobachtete, wie sie hinausging, als wolle sie allein sein, ehe sie noch ein weiteres Wort sagte. Dann schaute sie zu Rowan auf und deutete auf einen einsamen Stuhl, der an der langgestreckten Flanke des Tisches stand.
    Rowan ging hin und setzte sich mit den Rücken zu den Fenstern, hinter denen der Garten lag. Sie drehte den Stuhl herum, damit sie Carlotta ansehen konnte.
    Weitere Wandgemälde wurden sichtbar, als sie den Blick hob. Eine Pflanzervilla mit weißen Säulen, und welliges Hügelland dahinter.
    Sie schaute an den Kerzen vorbei zu der alten Frau hinüber; zu ihrer Erleichterung spiegelten sich die winzigen Kerzenflammen nicht mehr in den Brillengläsern. Sie sah nur noch das eingefallene Gesicht, die sauber blitzende Brille, den dunkel geblümten Stoff des langärmeligen Kleides und die mageren Hände, die aus der Spitze an den Ärmeln hervorkamen und deren knotige Finger etwas hielten, das aussah wie ein samtbezogenes Schmuckkästchen.
    Mit harter Bewegung stieß sie es jetzt zu Rowan herüber.
    »Das gehört dir«, sagte sie. »Es ist ein Smaragd-Anhänger. Er gehört dir, wie dieses Haus dir gehört und der Grund, auf dem es steht, und alles irgend wie Nennenswerte, das es enthält. Darüber hinaus existiert ein Vermögen, das etwa das Fünfzigfache deines jetzigen Besitzes umfaßt, vielleicht das Hundertfache – genau läßt sich das inzwischen nicht mehr sagen. Aber höre, was ich dir mit zu teilen habe, bevor du Anspruch erhebst auf das, was dir gehört. Höre alles, was ich dir zu sagen habe.«
    Sie schwieg und musterte Rowans Gesicht; der Eindruck von Alterslosigkeit in der Stimme der Frau, ja, in ihrer ganzen Haltung, verstärkte sich bei Rowan. Es war beinahe gespenstisch, als bewohne der Geist einer jungen Person die alte Gestalt und verleihe ihr eine wilde, widersprüchliche Belebtheit.
    »Nein«, sagte die Frau. »Ich bin alt, sehr alt. Was mich am Leben gehalten hat, ist das Warten auf ihren Tod und auf den Augenblick, den ich am allermeisten gefürchtet habe: auf den Augenblick deines Erscheinens. Ich habe darum gebetet, daß Ellie ein langes Leben haben und daß sie dich in diesem langen Leben dicht bei sich behalten möge, bis Deirdre in ihrem Grab verrottet und die Kette zerrissen wäre. Aber das Schicksal hat mir noch eine kleine Überraschung zukommen lassen.«
    »Sie hat getan, was sie konnte, um mich von hier fernzuhalten«, antwortete Rowan schlicht. »Sie hat darauf bestanden, daß ich es ihr schriftlich gab; ich mußte versprechen, niemals herzukommen. Ich habe mich dafür entschieden, dieses Versprechen zu brechen.«
    Die alte Frau schwieg.
    »Ich wollte kommen«, sagte Rowan. Und dann fügte sie so sanft, so beschwörend, wie sie nur konnte, hinzu: »Warum wolltest du, daß ich von hier ferngehalten werde? War es eine so schreckliche Geschichte?«
    Die Frau betrachtete sie stumm. Dann sagte sie: »Du bist eine starke Frau. Du bist stark, wie meine Mutter stark war.«
    Rowan antwortete nicht.
    »Du hast ihre Augen. Hat sie dir das gesagt? War einer von ihnen alt genug, um sich an meine Mutter zu erinnern?«
    »Ich weiß nicht«, sagte Rowan.
    »Was hast du mit deinen eigenen Augen gesehen?« fragte die alte Frau. »Was hast du gesehen, während du schon wußtest, daß es nicht da sein dürfte?«
    Rowan erschrak. Zuerst glaubte sie, sie habe die Worte mißverstanden, aber im Bruchteil einer Sekunde war ihr klar, daß es kein Irrtum war, und im selben Augenblick dachte sie an das Phantom, das ihr um drei Uhr morgens erschienen war,

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