Hexenstunde
stand auf und hakte sorgfältig ihren Gehstock von der Stuhllehne. Mit überraschender Sicherheit durchquerte sie den Raum und ging an Rowan vorbei, die dastand und sie beobachtete, während sie die zarte Kerzenflamme mit der Wölbung ihrer linken Hand schützte. Das kleine Licht sprang an der Wand hinauf, als sie den Korridor hinuntergingen. Für einen Augenblick beschien es die schimmernde Fläche eines alten Porträts; der Mann auf dem Bild schien jäh zum Leben zu erwachen und Rowan anzustarren. Sie blieb stehen und wandte heftig den Kopf, aber gleich sah sie, daß es eine Täuschung gewesen war.
»Was ist?« fragte Carlotta.
»Ich dachte nur…« Rowan schaute das Porträt an; es war von geschickter Hand gemalt und zeigte einen lächelnden Mann mit schwarzen Augen, der ganz ohne Zweifel nicht lebendig, sondern unter einer Schicht von sprödem, rissigem Firnis begraben war.
»Was?«
»Schon gut«, sagte Rowan und ging weiter, und wieder hielt sie die gewölbte Hand schützend vor die Kerzenflamme. »In dem Licht sah es aus, als ob er sich bewegt hätte.«
Die Frau schaute starr auf das Porträt, und Rowan blieb neben ihr stehen. »Du wirst viele seltsame Dinge in diesem Haus sehen«, sagte sie. »Du wirst an leeren Zimmern vorbeigehen und dich erschrocken umschauen, weil du plötzlich glaubst, es habe sich dort jemand bewegt, oder irgend jemand dort habe dich angestarrt.«
Rowan sah ihr prüfend ins Gesicht, und sie sah dort weder Spiel noch Bosheit; die alte Frau erschien jetzt nur noch einsam, ratlos und nachdenklich. Sie wandte sich ab und ging auf die hohe Tür am Fuße der Treppe zu. Dort drückte sie auf einen Knopf. Mit gedämpftem Rumpeln kam der Aufzug ins Parterre herunter gefahren und blieb dort schwer und ruckartig stehen. Die Frau drehte den Türknauf und öffnete die Tür; dahinter erschien ein Messinggitter, das sie mit einiger Anstrengung zur Seite schob.
Sie traten in den Aufzug; ein abgenutzter Teppich lag auf dem Boden, und dunkle, stoffbespannte Wände umschlossen das Ganze. Eine trübe Glühbirne glomm von der Metalldecke auf sie herab.
Der Korridor im ersten Stock lag in noch schwärzerer Finsternis als der im Erdgeschoß. Die Luft hier war wärmer. Keine offene Tür, kein Fenster ließ auch nur ein Streifchen Licht von der Straße hereinfallen; das Kerzenlicht schien matt auf die vielen weißgetäfelten Türen und auf eine Treppe, die weiter nach oben führte.
»Komm hier hinein«, sagte die alte Frau und öffnete eine Tür zur Linken. Sie betrat das Zimmer, und ihr Stock tappte weich auf einen dicken, geblümten Teppich.
Vorhänge, dunkel und moderig wie die unten im Speisezimmer, ein schmales Holzbett mit hohem Baldachin und der geschnitzten Figur eines Adlers, wie es schien. Ein ähnliches, tief eingeschnitztes symmetrisches Muster zierte das Kopfende.
»In diesem Bett ist deine Mutter gestorben«, sagte Carlotta.
Rowan schaute auf die blanke Matratze. Sie sah einen großen dunklen Fleck auf dem gestreiften Stoff, der glänzte, ja, beinah funkelte im Dunkeln. Insekten! Winzige schwarze Insekten nährten sich geschäftig an diesem Fleck. Als Rowan nähertrat, flüchteten sie vor dem Licht und krabbelten auf die vier Ecken der Matratze zu. Rowan schrie auf und hätte fast die Kerze fallengelassen.
»Das ist widerlich«, sagte Rowan leise. »Jemand sollte dieses Zimmer saubermachen!«
»Du kannst es saubermachen lassen, wenn du möchtest«, bemerkte die alte Frau. »Es ist jetzt dein Zimmer.«
Rowan war übel von der Hitze und dem Anblick der Kakerlaken. Sie ging zur Tür und lehnte den Kopf an den Rahmen. Andere Gerüche stiegen auf und drohten ihre Übelkeit zu verstärken.
»Was willst du mir sonst noch zeigen?« fragte sie ruhig. Schlucke deinen Zorn hinunter, flüsterte sie innerlich. Ihr Blick wanderte über die verblichenen Wände, den kleinen Nachttisch voller Gipsstatuen und Kerzen. Grell, häßlich, dreckig. Sie starb im Dreck. Starb hier. Vernachlässigt.
»Nein«, sagte die alte Frau. »Nicht vernachlässigt. Und was wußte sie am Ende noch von ihrer Umgebung? Du kannst die Krankenakte selbst lesen.«
Die alte Frau ging an ihr vorbei in den Korridor. »Und jetzt müssen wir die Treppe hinaufsteigen«, sagte sie. »Der Aufzug fährt nicht weiter.«
Hoffentlich brauchst du meine Hilfe nicht, betete Rowan. Der bloße Gedanke, die Frau zu berühren, ließ sie zurückschrecken. Sie versuchte, gleichmäßig zu atmen, den Tumult in ihrem Innern zu beenden. Die Luft
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