Hexenstunde
war schwer und abgestanden und voll von kaum spürbaren Erinnerungen an schlimmere Gerüche; sie schien an ihr zu kleben, an ihren Kleidern, ihrem Gesicht.
Sie beobachtete, wie die Frau hinaufstieg, wie sie jede Stufe langsam, aber rüstig bewältigte.
»Komm mit, Rowan Mayfair«, sagte sie jetzt über die Schulter. »Und bring das Licht mit. Die alten Gaslampen oben sind schon vor langer Zeit stillgelegt worden.«
Rowan folgte ihr, und die Luft wurde immer wärmer. Als sie sich auf dem kleinen Absatz befanden, sah sie eine weitere, kurze Treppe und dann den letzten Absatz des zweiten Stockwerks. Und als sie hinaufstieg, war es ihr, als müsse alle Wärme im Haus sich hier gesammelt haben.
Durch ein Gitterfenster zur Rechten drang von unten das farblose Licht der Straßenlaterne herein. Zwei Türen waren zu sehen, eine links und eine unmittelbar vor ihnen.
Die linke Tür war es, die die alte Frau öffnete. »Siehst du da die Öllampe auf dem Tisch? Zünde sie an.«
Rowan stellte die Kerze ab und hob den Glaszylinder der Lampe hoch. Der Geruch des Öls war etwas unangenehm. Sie hielt die brennende Kerze an den rußigen Docht. Die große, helle Flamme leuchtete noch stärker, als sie den Zylinder wieder herunterdrückte. Sie hielt die Lampe in die Höhe, und das Licht erfüllte ein geräumiges, niedriges Zimmer, staubig und feucht und voller Spinnweben. Auch hier flüchteten kleine Insekten vor dem Licht. Ein trockenes Rascheln erschreckte sie, aber der gute Geruch von Wärme und Holz war hier kräftig, kräftiger noch als der Geruch von verrottetem Stoff und Schimmel.
Sie sah, daß Koffer an den Wänden standen, und Kisten türmten sich auf einem alten Messingbett in der hinteren Ecke unter den beiden viereckigen Fenstern. Ein dichtes Rankengeflecht bedeckte die Scheiben zur Hälfte; das Licht fing sich in den nassen Regentropfen, die immer noch auf den Blättern lagen, und ließ sie um so deutlicher sichtbar sein. Die Vorhänge waren vor langer Zeit abgefallen und lagen in unordentlichen Haufen auf den Fensterbrettern.
Bücher säumten die Wand zur Linken; sie flankierten den Kamin und sein schmales hölzernes Sims, und die Regale reichten bis zur Decke. Bücher lagen ungeordnet auf den alten gepolsterten Stühlen, die jetzt ganz weich aussahen, schwammig vor Feuchtigkeit und Alter. Das Licht der Lampe blinkte auf dem stumpfen Messing der alten Bettstatt. Es fing sich auch im matten Lederschimmer eines Paars Schuhe, die anscheinend gegen einen langen, dicken Teppich geschleudert worden waren, der zu einer klumpigen Rolle verschnürt und vor den unbenutzten Kamin geschoben worden war.
Etwas Merkwürdiges hatten diese Schuhe an sich, und etwas Merkwürdiges hatte auch diese klumpige Teppichrolle. Lag es daran, daß der Teppich mit einer rostigen Kette zusammengeschnürt war und nicht mit einem Seil, was viel naheliegender gewesen wäre?
Sie merkte, daß die alte Frau sie beobachtete.
»Dieses Zimmer hat meinem Onkel Julien gehört«, sagte die Frau jetzt. »Durch dieses Fenster dort ist deine Großmutter Antha auf das Vordach gestiegen, und von da ist sie in den Tod gestürzt, hinunter auf die Steinplatten.«
Rowan bemühte sich, die Lampe ruhig zu halten; sie packte sie fester um die schmale Taille des gläsernen Fußes. Sie sagte nichts.
»Öffne den ersten Koffer da rechts«, befahl die alte Frau.
Rowan zögerte nur einen Augenblick – ohne zu wissen, warum -, und dann kniete sie auf dem kahlen, staubigen Boden nieder, stellte die Lampe vor den Koffer und untersuchte den Deckel und das zerbrochene Schloß. Sie öffnete es.
»Kannst du sehen, was dort drinnen ist?«
»Puppen«, antwortete Rowan. »Puppen aus… Haaren und Knochen.«
»Ja, aus Knochen, und aus Menschenhaaren und aus Menschenhaut und aus Fingernägeln. Puppen deiner Ahnfrauen, so alt, daß es für die ältesten Puppen keine Namen gibt und daß sie zu Staub zerfallen, wenn du sie aufheben willst.«
Rowan betrachtete sie, Reihe um Reihe sorgfältig auf altes Nesseltuch gebettet, jede Puppe mit sorgfältig gemaltem Gesicht und einer langen Haarsträhne, manche mit Holzstöcken anstelle von Armen und Beinen, andere mit weichen Körpern und beinahe formlos. Die neueste und hübscheste all dieser Puppen war aus Seide; ihr Kleidchen war mit Perlen bestickt, und das Gesicht war aus poliertem Knochen. Nase, Augen und Mund waren mit dunkelbrauner Tinte, vielleicht auch mit Blut aufgemalt.
»Ja, mit Blut«, sagte die alte Frau. »Und das ist
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