Hexenstunde
und fühlen.« Die Frau wandte sich ab; sie bewegte den Stock vor sich her, ging zur linken Wand neben dem Kamin, blieb vor der klumpigen Teppichrolle stehen und schaute hinauf zu den Büchern in den Regalen zu beiden Seiten des getäfelten Kamins oberhalb des Simses.
»Historien«, sagte sie. »Die Geschichten all derer, die vorher kamen, geschrieben von Julien. Das hier war Juliens Zimmer, Juliens Klause. Hier hat er seine Bekenntnisse geschrieben. Wie er bei seiner Schwester Katherine lag, um meine Mutter Mary Beth zu zeugen, und wie er dann bei ihr lag, um meine Schwester Stella zu zeugen. Und als er bei mir liegen wollte, spuckte ich ihm ins Gesicht. Ich kratzte ihm fast die Augen aus. Ich drohte ihn umzubringen.« Sie drehte sich um und schaute Rowan fest ins Gesicht.
»Schwarze Magie, böse Zaubersprüche, Aufzeichnungen über seine kleinkarierten Triumphe, wenn er Feinde bestraft oder Geliebte verführt hat. Alle Seraphime im Himmel hätten seine Wollust nicht befriedigen können. Nicht Juliens.«
»Das alles ist hier aufgezeichnet?«
»Das alles und mehr. Aber ich habe seine Bücher nie gelesen, und ich werde es auch nie tun. Es hat mir genügt, seine Gedanken zu lesen, wenn er Tag für Tag unten in der Bibliothek saß, die Feder eintauchte und vor sich hin lachte, während er seinen Phantasien freien Lauf ließ.«
»Und warum sind die Bücher dann noch hier? Warum hast du sie nicht verbrannt?«
»Weil ich wußte, daß du sie selbst würdest sehen müssen, solltest du jemals herkommen. Kein Buch ist so mächtig wie ein verbranntes Buch! Nein… du mußt selbst lesen, was er war, denn was er mit seinen eigenen Worten sagt, das kann nur zu seiner Verurteilung und zu seiner Verdammung führen.« Sie schwieg für einen Augenblick. »Lies und wähle«, wisperte sie. »Antha hatte keine Wahl. Deirdre hatte keine Wahl. Aber du. Du bist stark und klug und weise schon in deinen jungen Jahren. Weise. Ich sehe es in dir.«
Sie legte beide Hände auf die Krücke ihres Gehstocks und wandte nachdenklich den Blick zur Seite, ohne den Kopf zu drehen. Die Kappe aus weißem Haar lag schwer um ihr Gesicht.
»Ich habe mich entschieden«, sagte sie leise, beinahe traurig. »Ich bin zur Kirche gegangen, nachdem Julien mich berührt hatte, nachdem er mir seine Lieder gesungen und seine Lügen erzählt hatte. Ich bin in die Kapelle Unserer Lieben Frau von der Immerwährenden Hilfe gegangen, und dort bin ich niedergekniet und habe gebetet. ›Gott, steh mir bei‹, habe ich gesagt. ›Heilige Mutter, steh mir bei. Laßt mich meine Kräfte benutzen, um gegen sie zu kämpfen, sie zu besiegen, gegen sie zu gewinnen.‹«
Wieder wanderte ihr Blick weiter, in die Vergangenheit vielleicht. Lange Zeit schaute sie auf die Teppichrolle zu ihren Füßen, die sich wölbte in den Umschlingungen der rostigen Kette. »Ich wußte, was vor mir lag – schon da. Jahre später lernte ich, was ich brauchte. Ich lernte die Bannsprüche und Geheimnisse, die sie benutzten. Ich lernte, die niederen Geister herauf zu beschwören, deren sie sich bedienten. Ich lernte, ihn in all seiner Pracht zu bekämpfen, mit Geistern, die ich an mich gebunden hatte und denen ich damals mit einem Fingerschnippen befehlen konnte. Kurz, ich bekämpfte sie mit ihren eigenen Waffen.«
Sie sah mürrisch aus, geistesabwesend; sie studierte Rowans Reaktionen und erschien zugleich unbeteiligt.
»Ich habe Julien gesagt, ich würde kein inzestuöses Kind von ihm zur Welt bringen. Er brauche mir keine Zukunftsphantasien vorzuführen. Er solle nicht versuchen, mich hinters Licht zu führen, sich in meinen Armen in einen jungen Mann zu verwandeln, wenn ich sein welkes Fleisch fühlen konnte und immer wußte, daß es da war. Und sollte er mich noch einmal anrühren, würde ich, das versprach ich ihm, die Macht benutzen, die ich in mir hätte, um ihn zu vertreiben. Ich brauchte keines Menschen Hände, um mir dabei zu helfen. Und ich sah Angst in seinen Augen – Angst, obwohl ich selbst noch gar nicht gelernt hatte, meine Drohungen wahr zu machen. Vielleicht war es auch nur die Angst vor einer, die er nicht verführen, nicht in Verwirrung stürzen, nicht für sich gewinnen konnte.« Sie lächelte, und ihre schmalen Lippen entblößten eine glänzende Reihe gleichmäßiger falscher Zähne. »Das ist eine schreckliche Sache, weißt du, für jemanden, der davon lebt, daß er andere verführt.«
Sie versank in Schweigen, verloren vielleicht in der Erinnerung.
Rowan atmete tief
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