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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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angeschnallt. Aber ich glaube, er hat sich ziemlich heftig den Kopf gestoßen.«
    »Hat man ihn ins Krankenhaus gebracht?«
    »Jawohl, Doktor. Es fehlt ihm nichts. Aber deshalb habe ich so lange gebraucht, um herzukommen. Er wollte, daß du zu ihnen kommst, hinaus aufs Land, um die Akte dort zu lesen. Aber ich bin trotzdem hergekommen. Ich wußte, dieses Wesen würde mich nicht umbringen. Ich habe meinen Zweck noch nicht erfüllt.«
    »Sie wollen, daß du die Kette zerreißt«, sagte sie. »Das hat die alte Frau gesagt. Sie sagte: ›Zerreiße die Kette‹, und damit meinte sie dieses Vermächtnis, das vermutlich von Charlotte bis auf den heutigen Tag überliefert wurde, auch wenn sie von niemandem aus so tiefer Vergangenheit gesprochen hat. Sie sagte, versucht habe sie es selbst. Aber ich würde es können.«
    »Das ist die nächstliegende Antwort, ja. Aber es muß noch mehr dahinterstecken; es muß mit ihm zu tun haben und damit, daß er sich mir zeigt.«
    »Okay«, sagte sie. »Jetzt hör mir zu. Ich werde die Akte lesen. Jede Seite. Aber ich habe dieses Wesen auch gesehen. Es erscheint nicht einfach. Es wirkt auf Materie ein.«
    »Wann hast du es gesehen?«
    »In der Nacht, als meine Mutter starb. Zu genau derselben Stunde. Ich habe versucht, dich anzurufen. Ich habe im Hotel angerufen, aber du warst nicht da. Ich habe eine Höllenangst gehabt. Aber die Erscheinung ist nicht das Ausschlaggebende daran. Es ist das, was sonst noch geschehen ist. Es hat auf das Wasser rings um das Haus eingewirkt. Es hat es in solche Bewegung versetzt, daß das Haus auf seinen Pfählen ins Wanken geriet. Dabei gab es in dieser Nacht nicht das kleinste Unwetter in der Richardson Bay oder in der San Francisco Bay; es gab kein Erdbeben und auch sonst keinen natürlichen Grund dafür. Und da ist noch etwas. Beim zweiten Zusammentreffen habe ich gefühlt, wie dieses Ding mich berührte.«
    »Wann ist das denn passiert?«
    »Im Flugzeug. Ich dachte, es sei ein Traum. Aber es war keiner. Ich war nachher ganz wund – so, als ob ich mit einem starken Mann zusammengewesen wäre.«
    »Du meinst, es hat…?«
    »Ich dachte, ich schlafe und träume. Aber der entscheidende Punkt, auf den ich hinweisen will, ist der: Dieses Ding ist nicht auf Erscheinungen beschränkt. Es ist auf eine sehr spezifische Weise an der physikalischen Welt beteiligt. Und was ich verstehen muß, sind keine Parameter.«
    »Nun, das ist eine löbliche wissenschaftliche Einstellung. Darf ich fragen, ob seine Berührungen auch noch eine andere, womöglich weniger wissenschaftliche Reaktion hervorgerufen haben oder nicht?«
    »Natürlich. Es war angenehm, denn ich war im Halbschlaf. Aber als ich aufwachte, kam ich mir vor, als wäre ich vergewaltigt worden. Es war mir widerlich.«
    »Oh, reizend«, sagte er besorgt. »Einfach reizend. Aber, weißt du, du hast die Macht, dieses Ding an solchen Schändungen zu hindern.«
    »Ich weiß. Und jetzt, wo ich es weiß, werde ich es auch tun. Aber wenn vorgestern jemand versucht hätte, mir zu erzählen, daß auf dem Flug nach New Orleans ein unsichtbares Wesen mir an die Wäsche gehen würde, dann hätte ich es nicht geglaubt. Aber wir wissen, daß es mich nicht verletzen will. Und wir sind ziemlich sicher, daß es dich nicht verletzen will. Wir müssen nur immer bedenken, daß es anscheinend sehr wohl jeden anderen verletzen will, der seine Pläne stört, und dazu gehört jetzt auch dein Freund Aaron.«
    »Stimmt«, sagte Michael.
    »Jetzt siehst du müde aus – als wärest du derjenige, der ins Hotel und ins Bett gebracht werden muß«, stellte sie fest. »Wollen wir nicht gehen?«
    Er antwortete nicht. Er richtete sich auf und rieb sich mit beiden Händen den Nacken. »Es gibt da noch etwas.«
    »Was denn?«
    »Ahnst du es nicht?«
    »Na, sag’s schon«, drängte sie leise und geduldig.
    »Willst du nicht mit ihm sprechen? Willst du ihn nicht selbst fragen, wer er ist und was er ist? Glaubst du nicht, daß du vielleicht besser und wahrer mit ihm kommunizieren kannst als alle anderen? Vielleicht willst du es nicht – aber ich. Ich will mit ihm reden. Ich will wissen, warum er sich mir gezeigt hat, als ich ein kleiner Junge war. Ich will wissen, warum er mir neulich abends so nah gekommen ist, daß ich ihn fast hätte berühren können. Ich will wissen, was er ist. Und ganz gleich, was Aaron mir erzählt hat oder noch erzählen wird, ich glaube, ich bin clever genug, um zu diesem Ding durch zu dringen und mit ihm zu diskutieren,

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