Hexenstunde
gesehen, das er nicht ganz glauben konnte. Und wenn sie daran dachte, wie dieser Name sie berührt hatte, als Ellie ihn in den letzten Wochen des Fieberdeliriums ausgesprochen hatte. »Stella im Sarg.«
Er schaute hinüber zu der Hausfassade; als sie seinem Blick folgte, sah sie den hohen Giebel über dem zweiten Stock, wo die Doppelkamine in den Himmel schwebten, und den Schimmer von Mond oder Sternen – sie konnte es nicht erkennen – in den viereckigen Fensterscheiben dort oben vor dem Zimmer, wo der Mann gestorben war und wohin Antha sich vor Carlotta geflüchtet hatte. Von dort oben war sie heruntergefallen, vorbei an den eisernen Verandagittern – ganz herunter bis auf die Steinplatten, wo ihr Schädel zerborsten war und das weiche Hirngewebe zerquetscht, daß das Blut hervorquoll.
Sie drängte sich enger an Michael, verschränkte die Hände hinter seinem Rücken und lehnte sich mit ihrem Gewicht an ihn.
Sie blickte geradewegs hinauf zu dem fahlen Himmel und den wenigen verstreut blinkenden Sternen, und dann kehrte die Erinnerung an die alte Frau zurück, und es war, als wolle die böse Wolke sie nicht loslassen. Sie dachte an den Ausdruck im Gesicht der alten Frau, als sie gestorben war. Sie dachte an ihre Worte. Und an das Gesicht ihrer Mutter im Sarg, die für allezeit auf dem weißen Satin schlummerte.
»Was ist, Darling?« Ein tiefes Grollen kam aus seiner Brust, so zärtlich und besorgt.
Sie drückte das Gesicht gegen sein Hemd, und es fröstelte sie wieder, wie es den ganzen Abend schon hin und wieder geschehen war; als sie fühlte, wie seine Arme sie fester, beinahe hart umschlangen, liebte sie ihn nur noch mehr.
Aber sie konnte den bösen Bann nicht abschütteln. Er war wie ein Teil des Himmels und des riesigen Baumes, der über ihrem Kopf emporragte, und des glitzernden Wassers tief unten, das zwischen dem wuchernden wilden Schilfgras um Beachtung kämpfte. Aber in Wahrheit war er nicht Teil irgendeines Ortes. Er war in ihr, war ein Teil von ihr. Und als ihr Kopf ruhig an seiner Brust lag, erkannte sie, daß es nicht nur die Erinnerung an die alte Frau und ihre persönliche, spröde Bösartigkeit war, sondern eine Vorahnung. Ellies Bemühungen waren vergebens gewesen, denn Rowan kannte diese Vorahnungen schon seit langem. Vielleicht ihr Leben lang hatte sie gewußt, daß ein furchtbares, dunkles Geheimnis auf sie wartete, daß es ein großes, ungeheures, gieriges, vielschichtiges Geheimnis war, das sich, wäre es einmal erschlossen, in alle Ewigkeit entfalten würde.
Dieser lange Tag in der wohlriechenden, tropischen Stadt altmodischer Höflichkeiten und Rituale war nur der Beginn dieses Entfaltens gewesen. Selbst die Geheimnisse der alten Frau waren nur der Anfang.
Und seine Kraft saugt dieses große Geheimnis aus derselben Wurzel, aus der auch ich meine Kraft beziehe, im Guten wie im Schlechten, denn am Ende sind die beiden nicht zu trennen.
»Rowan, laß dich jetzt fortbringen von hier«, sagte er. »Wir hätten schon längst gehen sollen. Es ist meine Schuld.«
»Nein, es kommt nicht darauf an, von hier weg zu gehen«, flüsterte sie. »Mir gefällt es hier. Es kommt nicht darauf an, wohin ich gehe; warum wollen wir also nicht hierbleiben, wo es dunkel und still und schön ist?«
Der weiche, schwere Geruch jener Blume wehte wieder heran. Nachtjasmin hatte die alte Frau sie genannt.
»Ah, riechst du das, Michael?« Sie schaute zu den weißen Wasserlilien hinüber, die im Dunkeln leuchteten.
»Das ist der Duft der Sommernächte in New Orleans«, sagte er. »Wo man einsam spazieren geht und pfeift und mit einem Zweig an den Eisengitterzäunen entlangstreift.« Sie liebte die tiefen Schwingungen seiner Stimme in seiner Brust. »Der Duft eines Spaziergangs durch all diese Straßen.«
Er schaute auf sie herunter und bemühte sich anscheinend angestrengt, ihr Gesicht zu erkennen. »Rowan, was immer geschieht, gib dieses Haus nicht aus der Hand. Selbst wenn du fortgehen mußt und es nie wiedersehen kannst, selbst wenn du es irgendwann hassen solltest. Gib es nicht weg. Laß es niemals jemandem in die Hände fallen, der es nicht lieben würde. Es ist zu schön. Es muß das alles überleben, genau wie wir.«
Sie antwortete nicht. Sie gestand ihm nicht ihre dunkle Angst, daß sie es nicht überleben würden, daß irgend wie alles, was ihr je Trost gespendet hatte, verloren gehen würde. Und dann erinnerte sie sich an das Gesicht der alten Frau dort oben in dem Todeszimmer, wo vor vielen,
Weitere Kostenlose Bücher