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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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wartete.
    »O ja, Honey, ja«, sagte er wie einer, der aus einem Traum erwacht, und seine Sinne waren plötzlich überflutet vom Duft des Geißblatts an den Fliegengittern und vom Gesang der Vögel draußen und von der Wärme der Sonne, die zu ihnen hereinschien.
    Er stand mitten in dem langgestreckten Zimmer und drehte sich um sich selbst. »Das Licht, Rowan. Wir müssen das Licht hereinlassen. Komm.« Er faßte sie bei der Hand. »Mal sehen, ob sich die alten Blendläden noch öffnen lassen.«

 
    31
     
     
    Leise und ehrfürchtig machten sie sich daran, das Haus zu erkunden. Anfangs war es, als seien sie vor den Wärtern in einem Museum davongeschlichen und wagten nun nicht, diese zufällig errungene Freiheit zu mißbrauchen.
    Aber nach und nach, als die schattenhafte Wärme ihnen vertrauter wurde, nahm ihre Kühnheit zu.
    Allein in der Bibliothek stöberten sie eine Stunde herum; sie studierten die Rücken der ledergebundenen Klassiker und die alten Pflanzenjournale von Riverbend, und sie sahen betrübt, daß die Seiten aufgequollen und ruiniert waren. Die alten Rechnungsbücher waren beinahe restlos unleserlich.
    Die Papiere auf dem Schreibtisch rührten sie nicht an; Ryan Mayfair würde sie abholen und durchsehen. Sie betrachteten die gerahmten Porträts an den Wänden.
    »Das ist Julien. Das muß er sein.« Dunkel und gutaussehend lächelte er sie an, als sie im Flur standen. »Was ist das im Hintergrund?« Das Bild war so stark gedunkelt, daß Michael erst nichts erkennen konnte. Aber dann sah er, daß Julien auf der vorderen Veranda dieses Hauses stand.
    »Ja, und da, das alte Foto, das ist anscheinend Julien mit seinen Söhnen. Der ihm am nächsten steht, ist Cortland. Das ist mein Vater.« Auch diese standen auf der Eingangsveranda und lächelten durch den verblichenen Sepiaton – und wie fröhlich, ja ausgelassen sie aussahen.
    Und was würdest du sehen, wenn du sie anrührtest, Michael? Und woher weißt du, daß Deborah nicht gerade das von dir will?
    In der kleinen, hohen Vorratskammer entdeckten sie Regale über Regale mit prachtvollem Geschirr: Minton, Lenox, Wedgwood, Royal Doulton – Blumenmuster, orientalische Muster, Muster mit silbernem und goldenem Rand. Altes Steingut und orientalisches Porzellan, antikes Blue Willow und altes Spode.
    Truhen über Truhen mit Silber waren da, schwere, prunkvolle Stücke zu Hunderten, auf Filz gebettet, darunter ein paar sehr alte Sets mit englischen Prägezeichen und dem Initial M, das im europäischen Stil auf der Rückseite eingraviert war.
    Silberne Kerzenleuchter fanden sie, feinziselierte Punschbowlen und Servierplatten, Brotteller, Butterschalen und alte Wasserkrüge, Kannen für Kaffee und Tee, Karaffen, exquisite Treibarbeiten. Wie durch Zauberei verschwand die dunkelste Verfärbung unter einem kräftig reibenden Finger, und darunter offenbarte sich der alte Glanz von purem Silber.
    Geschliffene Glasschüsseln in allen Größen standen hinten in den Schränken, und Teller und Platten aus Bleikristall.
    Nur die Tischdecken und die Berge von alten Servietten waren zu sehr verdorben; das feine Leinen und die Spitze waren in der unvermeidlichen Feuchtigkeit verrottet, und nur hier und da prangte noch der Buchstabe M stolz unter dunklen Schimmelflecken.
    Aber sogar davon waren ein paar sorgsam in einer mit Zedernholz ausgekleideten Schublade verwahrt, eingehüllt in blaues Papier, schwere alte Spitze, die wunderschön vergilbt war. Dazwischen verstreut lagen Serviettenringe aus Elfenbein, Silber und Gold.
    Die Spätnachmittagssonne sandte ihre schrägen Strahlen durch die Fenster des Speisezimmers. Sieh sie dir noch einmal an, dachte er – in dieser Umgebung. Rowan Mayfair. Die Wandmalereien erwachten zum Leben, offenbarten ein ganzes Volk von kleinen Gestalten, die sich in traumartigen Plantagen verloren. Der große, längliche Tisch stand fest und prächtig wie vielleicht schon seit einem Jahrhundert. Chippendale-Stühle mit feingeschnitzten Lehnen säumten die Wände.
    Wollen wir bald einmal hier speisen, mit hohen, flackernden Kerzen?
    »Ja«, flüsterte sie. »Ja.«
    In der Bediensteten-Speisekammer fanden sie dann die zarten Gläser, genug für ein königliches Bankett. Sie fanden feingeblasene Kelche und Becher mit dickem Boden und eingravierten Blüten – Sherry-Gläser, Gläser für Brandy, für Champagner, für Weißwein und für Rotwein, Schnapsgläser und Likörgläser, die dazugehörigen Karaffen mit Glasstopfen, Krüge aus geschliffenem

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