Hexenstunde
»Streiche die Wände in Gedanken mit warmen, hellen Farben. Denk dir das ganze Holzwerk strahlend weiß und sauber.«
»Es ist jetzt unsers«, flüsterte sie. »Deins und meins. Von jetzt an schreiben wir die Akte weiter.«
»Die Akte über Rowan und Michael«, sagte er mit leisem Lächeln. Oben an der Treppe blieb er stehen. »Hier oben sieht die Sache einfacher aus. Die Decken sind fast einen halben Meter tiefer, und es fehlt der prunkvolle Stuck. Das Ganze in einem kleineren Maßstab.«
Sie lachte und schüttelte den Kopf. »Und wie hoch sind diese kleinen Zimmer dann? Viereinhalb Meter vielleicht?«
Sie bogen um die Ecke und gingen den Gang hinunter zum ersten Schlafzimmer an der Vorderseite des Hauses. Die Fenster hier blickten auf die Vorder- und auf die Seitenveranda. Beiles Gebetbuch lag auf der Kommode; ihr Name war in goldenen Lettern in den Umschlagdeckel geprägt. An stumpf gewordenen, rostigen Ketten hingen Photos in vergoldeten Rahmen hinter trübem Glas.
»Wieder Julien. Er muß es sein«, meinte Michael. »Und Mary Beth. Schau nur, die Frau sieht aus wie du, Rowan.«
»Das haben sie mir schon gesagt«, antwortete sie leise.
Beiles Rosenkranz – auf der Rückseite des Kruzifixes war ebenfalls ihr Name eingraviert – lag auf dem Kopfkissen des Pfostenbettes. Staub erhob sich von dem Federbett, als Michael es berührte. Aus dem Satinbaldachin darüber spähte ein geflochtener Kranz aus Rosen auf ihn herunter.
»Oh, aber Michael, das hier ist das beste Zimmer«, sagte Rowan hinter ihm. »Es geht nach Süden und nach Westen. Hilf mir mal mit der Tür.«
Gewaltsam zogen sie die widerspenstige Balkontür auf. »Es ist wie in einem Baumhaus hier«, sagte sie, als sie auf den breiten Vorderbalkon hinaustrat. Sie legte eine Hand an die kanellierte korinthische Säule und schaute durch die knorrigen Äste der Eichen. »Schau nur, Michael, da wächst Farnkraut zwischen den Ästen, Hunderte von kleinen grünen Farnpflanzen. Und da, ein Eichhörnchen. Nein, sogar zwei! Wir haben sie erschreckt. Es ist so seltsam. Als wären wir im Wald – und wir könnten hinausspringen und losklettern. Wir könnten in diesem Baum bis zum Himmel hinaufsteigen.«
Michael betastete prüfend die Tragbalken unter ihren Füßen. »Solide, wie alles andere hier. Und das schmiedeeiserne Geländer ist eigentlich nicht verrostet. Es braucht nur einen frischen Anstrich.« Und in dem Dach über ihnen waren auch keine undichten Stellen.
Er schaute hinunter durch das Gewirr der kleinen Olivenbäumchen am Vordertor. Er sah sich selbst dort stehen, als er ein kleiner Junge war. Sie ergriff plötzlich seine Hände und zog ihn hinter sich her ins Zimmer.
»Schau, diese Tür führt ins nächste Schlafzimmer. Das könnte ein Wohnzimmer werden, Michael. Und von beiden gelangt man auf die Seitenveranda da.«
Er starrte eines der ovalen Photos an. Stella? Es mußte Stella sein.
»Wäre das nicht wunderbar?« fragte sie. »Es muß ein Wohnzimmer werden.«
Wieder fiel sein Blick auf den weißen Ledereinband des Gebetbuchs, auf dem in goldenen Buchstaben die Worte »Belle Mayfair« standen. Nur für eine Sekunde, dachte er. Faß es an. Denk doch – Belle war so lieb, so gut.
Wie könnte Belle dir etwas antun? Du bist in diesem Haus und benutzt dein Talent nicht.
»Michael?«
Aber er konnte es nicht. Wenn er einmal anfinge, wie könnte er wieder aufhören? Und es würde ihn umbringen – diese Elektroschocks, die ihn durchzuckten, und die Blindheit, die unvermeidliche Blindheit, wenn all die Bilder ihn wie trübes Wasser umschwammen, und die Kakophonie von Stimmen. Nein. Du brauchst das nicht zu tun. Niemand hat gesagt, daß du es tun mußt.
Die plötzliche Vorstellung, jemand könnte ihn zwingen, es zu tun, könnte ihm die Handschuhe herunterreißen und seine Hände auf diese Gegenstände drücken, ließ ihn erschrocken den Kopf einziehen. Dabei kam er sich feige vor. Und Rowan rief ihn. Er wandte den Blick nicht von dem Gebetbuch, als er zurückwich.
»Michael, das hier muß Millies Zimmer gewesen sein. Ein Kamin ist auch drin.« Sie stand vor einer hohen Wäschekommode und hielt ein kleines, monogrammbesticktes Taschentuch in der Hand. »Diese Zimmer sind wie Schreine«, sagte sie.
»Alle Zimmer hier haben einen Kamin«, sagte er geistesabwesend. »Ich werde mir die Schamotte in den Schornsteinen ansehen müssen. Diese kleinen, flachen Roste wurden nie für Holz benutzt; darauf hat man Kohle verbrannt.«
Jetzt standen
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