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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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zitterte wie Espenlaub im Wind; ihre Schneidezähne stachen immer wieder in die Unterlippe, und ihre rechte Hand krallte sich grausam um die Linke.
    »Hör auf, Honey, hör doch auf – du tust dir ja weh«, sagte er. Aber als er sie berührte, fühlte sie sich an wie aus Stahl gemacht, unnachgiebig.
    »Ich schwöre dir, ich hab’s nicht geglaubt. Es ist wie ein Impuls, weißt du, und man glaubt es eigentlich nicht, man hält es für unmöglich, daß man… Ich war so wütend auf Karen Garfield. Es war ja ungeheuerlich, daß sie dort aufkreuzte, daß sie in Ellies Haus spaziert kam, so dämlich und ungeheuerlich!«
    »Ich weiß. Ich verstehe es.«
    Sie wandte sich ab, zog die Knie hoch und starrte dumpf ins Zimmer, ein bißchen ruhiger jetzt, aber ihre Augen waren immer noch unnatürlich weit, und ihre Finger arbeiteten immer noch voller Erregung.
    »Es wundert mich, daß dir die nächstliegende Antwort noch nicht eingefallen ist«, sagte sie. »Eine so klare und saubere Lösung.«
    »Was meinst du?«
    »Vielleicht ist dein Auftrag ganz einfach. Du sollst mich töten.«
    »Gott, wie kannst du so etwas nur denken?« Er rückte näher an sie heran, strich ihr das Haar aus dem Gesicht und zog sie an sich.
    Sie sah ihn an wie aus weiter Ferne.
    »Honey, hör mir zu«, sagte er. »Jeder kann einem Menschen das Leben nehmen. Es ist leicht. Ganz leicht. Es gibt Millionen Möglichkeiten. Du kennst welche, die ich nicht kenne, weil du Ärztin bist. Diese Frau, Carlotta, so klein sie war, hat einen Mann getötet, der stark genug gewesen wäre, sie mit einer Hand zu erwürgen. Jede beliebige Frau kann mich umbringen, wenn ich neben ihr schlafe. Das weißt du. Ein Skalpell, eine Hutnadel, ein bißchen tödliches Gift. Es ist leicht.
    Aber wir, wir tun so etwas nicht. Die meisten von uns sind durch nichts auf der Welt dazu zu bewegen, auch nur daran zu denken. Und so war es dein Leben lang auch bei dir. Und jetzt stellst du fest, daß du eine Fähigkeit besitzt, die über die Grenzen von freier Wahl und Impuls und Selbstbeherrschung hinausreicht, die ein feinsinnigeres Verständnis erfordert – und dieses Verständnis hast du. Du hast die Kraft, deine eigene Kraft kennenzulernen.«
    Sie nickte, aber sie zitterte noch immer am ganzen Leibe.
    »Rowan, am ersten Abend hast du mich gebeten, meine Handschuhe auszuziehen. Deine Hände zu halten. Ich habe ohne die Handschuhe mit dir geschlafen. Nur dein Körper und mein Körper, und unsere Hände berührten sich, und meine Hände berührten dich überall – und was sehe ich, Rowan? Was fühle ich? Ich fühle Güte, und ich fühle Liebe.«
    Er küßte sie auf die Wange. Er küßte ihr Haar und strich es mit der Hand aus der Stirn.
    »In vielen Dingen hast du recht mit dem, was du sagst, Rowan, aber darin nicht. Es ist mir nicht bestimmt, dich zu verletzen. Ich verdanke dir mein Leben.« Er drehte ihren Kopf zu sich und küßte sie, aber sie fühlte sich immer noch kalt an, und sie zitterte und war weit, weit weg.
    Sie faßte seine Hände und drückte sie herunter, weg von sich, sanft, zustimmend, und dann küßte sie ihn behutsam, aber sie wollte jetzt nicht berührt werden. Es half nichts.
    Eine Zeitlang saß er da, dachte nach, betrachte das lang gestreckte, prunkvolle Zimmer. Betrachtete die hohen Spiegel in ihren dunklen, geschnitzten Rahmen, den staubigen alten Bösendorfer-Flügel am anderen Ende und die Vorhänge, lange Strähnen von verblichener Farbe im Halbdunkel.
    Dann stand er auf. Er ging vor der Couch auf und ab, blieb irgendwann vor dem Fenster stehen und schaute hinaus auf die staubige Veranda. »Was hast du vorhin noch gesagt?« fragte er und drehte sich um. »Du hast von Passivität und Konfusion gesprochen. Nun, hier haben wir sie, Rowan: die Konfusion.«
    Sie gab keine Antwort. Geduckt saß sie da und starrte auf den Fußboden.
    Er ging zu ihr und hob sie hoch, zog sie von der Couch in seine Arme. Ihre Wangen waren immer noch fleckig rot und sehr bleich. Ihre Wimpern waren dunkel und lang, als sie zu Boden blickte.
    Er drückte seine Lippen sanft auf ihren Mund und spürte keinen Widerstand, beinahe kein Bewußtsein, als seien es die Lippen einer Ohnmächtigen oder Schlafenden. Dann erwachte sie langsam zum Leben. Sie schob ihre Hände in seinen Nacken und küßte ihn wieder.
    »Rowan, es gibt ein Muster«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Es gibt dieses große Netz, und wir sitzen mitten drin, aber ich glaube jetzt wie damals, daß sie gut waren, die Leute, die uns

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