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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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»Und schau dir die Eichen auf dem Grundstück an. Die alte Remise steht auch noch. Und du siehst, wie der Stuck von den Ziegelmauern abbröckelt.«
    »Von jedem Fenster aus kann man die Eichen sehen«, sagte Rowan leise, wie um keinen Staub aufzuwirbeln. »Und der Himmel, so tiefblau. Sogar das Licht ist anders hier. Es ist wie das weiche Licht von Florenz oder Venedig.«
    »Das stimmt«, sagte Michael. Er merkte, daß er wieder unruhig auf die Habseligkeiten dieser Frau schaute. Vielleicht hatte Rowans Unbehagen sich auf ihn übertragen. Zwanghaft quälte ihn die Vorstellung, er müsse seine Handschuhe ablegen und die nackte Hand auf die Dinge legen, die ihr gehört hatten.
    »Was ist, Michael?«
    »Laß uns gehen«, sagte er leise, und er umfaßte ihre Hand und ging zurück in den Hauptflur.
    Nur widerwillig folgte sie ihm in Deirdres altes Zimmer. Ihre Verwirrung und ihr Abscheu schienen sich hier noch zu vertiefen. Gleichwohl wußte sie, daß sie zu diesem Rundgang gezwungen war. Er sah, wie ihre Blicke hungrig über die gerahmten Fotos und die kleinen viktorianischen Stühle mit den geflochtenen Sitzflächen wanderten, und er umarmte sie fest, als sie auf den bösartigen Fleck auf der Matratze starrte.
    »Das ist furchtbar«, sagte er. »Ich muß jemanden kommen lassen, damit er es sauber macht.«
    Er schaute den Fleck an, ein großes braunes Oval, in der Mitte klebrig. Hatte die Frau einen Blutsturz erlitten, als sie gestorben war? Oder war in der Hitze dieses gräßlichen alten Zimmers ihr Kot aus ihr herausgeronnen, als sie so dagelegen hatte?
    »Ich weiß es nicht«, wisperte Rowan, obwohl er seine Frage nicht laut ausgesprochen hatte, und sie seufzte rauh. »Ich habe bereits um die Akten gebeten. Ryan fordert alles auf dem Rechtswege an. Ich habe heute mit ihm gesprochen. Ich habe den Arzt angerufen, und ich habe auch mit der Krankenschwester gesprochen. Viola. Eine reizende alte Frau. Sie kann erzählen wie Charles Dickens. Der Arzt hat nur gesagt, es habe keinen Grund gegeben, sie ins Krankenhaus zu bringen. Das Ganze war verrückt. Es gefiel ihm nicht, daß ich Fragen hatte. Er deutete an, daß ich im Unrecht sei, wenn ich ihm Fragen stellte. Es sei eine humane Entscheidung gewesen, sie sterben zu lassen.«
    Er hielt sie noch fester und streifte ihre Wange mit seinen Lippen.
    »Was sind das für Kerzen?« fragte sie und starrte auf den Altar neben dem Bett. »Und diese greuliche Statue. Was ist das?«
    »Die gesegnete Jungfrau«, sagte er. »Wenn sie ein nacktes Herz hat, nennt man es, glaube ich, das Unbefleckte Herz Mariens. Ich erinnere mich nicht genau. Die Kerzen sind geweiht. Ich habe sie hier oben flackern sehen, als ich am ersten Abend draußen war. Ich hätte mir nicht träumen lassen, daß sie da im Sterben lag. Wenn ich’s gewußt hätte, hätte ich… ich weiß nicht. Ich wußte nicht mal, wer hier wohnte, als ich das erstemal hier war.«
    »Aber warum haben sie diese geweihten Kerzen verbrannt?«
    »Als Trost für die Sterbende. Der Priester kommt. Er spendet ihr die sogenannten Sterbesakramente. Ich bin früher ein paarmal mitgewesen, als Meßdiener.«
    »Das haben sie für sie getan, aber ins Krankenhaus haben sie sie nicht gebracht.«
    »Rowan, wenn du es gewußt hättest, wenn du gekommen wärest – glaubst du, man hätte sie retten können? Ich glaube es nicht, Honey. Ich glaube, darauf kommt es jetzt nicht mehr an.«
    »Ryan sagt, nein. Sie war ein hoffnungsloser Fall. Er sagt, vor ungefähr zehn Jahren habe Carlotta die Medikamente einmal absetzen lassen. Sie habe auf keinen Reiz reagiert, von Reflexen einmal abgesehen. Ryan sagt, sie hätten alles in ihrer Macht Stehende getan, aber Ryan wird ja auch bemüht sein, sich selbst zu decken. Ich werde Bescheid wissen, wenn ich die Krankenakte gesehen habe, und dann werde ich mich wohler fühlen… oder schlechter.«
    Sie wandte sich vom Bett ab, und ihr Blick wanderte jetzt langsamer durch das Zimmer; anscheinend zwang sie sich, es so zu begutachten, wie sie alles andere begutachtet hatte.
    »Sie hat die Zeit angehalten, nicht wahr?«
    »Wer?«
    »Diese abscheuliche Carlotta. Sie hat hier die Zeit angehalten. Sie hat alles knarrend zum Stehen gebracht. Stell dir vor: junge Mädchen, die in einem solchen Haus aufwachsen. Es gibt nicht die Spur eines Hinweises darauf, daß sie jemals etwas Hübsches oder Besonderes oder Modisches besessen hätten.«
    »Na, ihr Regime ist jetzt vorbei«, stellte Rowan fest, aber sie sagte es nicht

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