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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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die ganze Geschichte erzählt. Der Krankenwagenfahrer des Sanatoriums fuhr oft die Limousinen für Lonigan und Söhne. Der hatte alles gesehen. Wie das Glas auf die Veranda rauskrachte. Klang so, als ob vorn in dem großen Zimmer alles in Trümmer geschlagen würde. Und Deirdre machte schreckliche Geräusche. Sie heulte. Grauenhafte Vorstellung – als ob jemand von den Toten auferstände.
    Na, Pater Mattingly ging das alles nichts an. Oder doch?
    Lieber Gott, Miss Carl war über achtzig, auch wenn sie immer noch jeden Tag zur Arbeit ging. Und sie war jetzt ganz allein in diesem Haus, allein mit Deirdre und der Angestellten.
    Je länger er darüber nachdachte, desto klarer war es Pater Mattingly, daß er hingehen sollte, auch wenn ihm dieses Haus zuwider war – ebenso wie Carl und wie alles, was er je über diese Leute gehört hatte. Ja, er sollte hingehen.
    Natürlich hatte er nicht immer so empfunden. Vor zweiundvierzig Jahren, als er aus St. Louis in diese Gemeinde am Fluß gekommen war, da hatte er die Mayfair-Frauen für vornehm gehalten, sogar die dralle und mürrische Nancy, und ganz sicher die reizende Miss Belle und die hübsche Miss Millie. Das Haus mit seinen Bronzeuhren und den Samtportieren hatte ihn bezaubert. Sogar die großen, trüben Spiegel hatte er geliebt und die Porträts der karibischen Vorfahren unter dem matter werdenden Glas.
    Und auch die kleine Deirdre hatte er gemocht, das sechsjährige Kind mit dem hübschen Gesicht, das er nur so kurze Zeit gekannt hatte und das dann nur zwölf Jahre später ein so tragisches Schicksal erlitten hatte. Ob es jetzt in den Lehrbüchern stand, daß ein Elektroschock das komplette Gedächtnis einer erwachsenen Frau auslöschen konnte, so daß sie zur stummen Hülse ihrer selbst wurde, die in den fallenden Regen hinaus starrte, während sie die Krankenschwester mit einem Silberlöffel zu füttern versuchte?
    Warum hatten sie es getan? Er hatte nicht zu fragen gewagt. Aber man hatte es ihm erzählt, immer wieder. Um sie von den »Wahnvorstellungen« zu befreien, die sie veranlaßten, in einem leeren Zimmer jemanden, der nicht da war, anzuschreien: »Du hast es getan!« Jemanden, den sie endlos verfluchte und für den Tod des Mannes verantwortlich machte, der ihr uneheliches Kind gezeugt hatte.
    Deirdre. Weinen um Deirdre. Das hatte Pater Mattingly getan, und niemand außer Gott würde je wissen, wieviel oder warum, wenn gleich Pater Mattingly selbst es nie vergessen würde. Sein Leben lang würde er sich an die Geschichte erinnern, die ein kleines Mädchen in der heißen Holzzelle des Beichtstuhls hervorgesprudelt hatte, ein kleines Mädchen, das sein Leben damit zubringen sollte, in diesem rankenumwobenen Haus zu vermodern, während die Welt draußen ihrem eigenen Verhängnis entgegenging.
    Geh einfach hin. Mach diesen Besuch. Vielleicht in stummem Gedenken an jenes kleine Mädchen. Versuche nicht, einen Reim auf alles zu finden. Ein kleines Mädchen redet von Teufeln, und nach all der langen Zeit klingt es dir noch immer in den Ohren! Wenn man den Mann mal gesehen hat, ist man erledigt.
    Pater Mattingly faßte einen Entschluß. Er zog seine schwarze Jacke an, rückte den römischen Kragen und das schwarze Chemisett zurecht, verließ das klimatisierte Pfarrhaus und trat hinaus auf den heißen, schmalen Gehweg der Constance Street. Er warf keinen Blick auf das Unkraut, das die Treppenstufen von St. Alphonsus zerfraß. Er warf keinen Blick auf die Graffiti an den Mauern der alten Schule. Er sah die Vergangenheit, wenn er überhaupt etwas sah, als er jetzt schnellen Schritts die Josephine Street hinunter und um die Ecke ging. Und dann, zwei kurze Straßen weiter, war er in einer anderen Welt. Die gleißende Sonne war fort, und mit ihr der Staub und das Getöse des Straßenverkehrs.
    Geschlossene Fensterläden, schattige Veranden. Das sanfte Zischeln von Rasensprengern hinter zierlichen Zäunen. Ein alles durch dringender Duft von Lehm, der auf die Wurzelballen sorgsam gepflegter Rosenstöcke gehäuft war.
    Also schön, und was wirst du sagen, wenn du da bist?
    Er ging, bis er die fleckig abblätternde Seitenfront des Mayfair-Hauses über die Wipfel ragen sah; die hohen Zwillingskamine schwebten vor den vorüberziehenden Wolken. Es sah aus, als wollten die Ranken das alte Gebäude geradewegs in den Boden hinunterziehen. War der Eisenzaun rostiger als beim letztenmal? Wie ein Dschungel, der Garten…
    Er verlangsamte seinen Schritt. Er ging langsamer, weil er in

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