Hexenstunde
der Himmel hinter den Eichen in Flammen aufging, so daß jedes winzige Blatt plötzlich klar umrissen war. Die Gehwegplatten wölbten sich über den Wurzeln der Eichen. Der kalte Wind schnitt ihm in die bloßen Finger.
Kalter Wind, jawohl. Es war doch nicht Sommer, sondern Winter, der schneidende, klirrend kalte Winter von New Orleans, und sie hasteten durch die Dunkelheit, um die letzte Parade der Mardi-Gras-Nacht zu sehen, die »Mystische Meute des Comus«.
So ein hübscher Name, dachte er im Traum; aber damals hatte er ihn mit einigem Staunen vernommen. Weit vor sich, auf der St. Charles Avenue, sah er die Fackeln der Parade, und er hörte die Trommeln, die ihm immer Angst einjagten.
»Beeilung, Michael«, sagte seine Mutter, und fast hätte sie ihn von den Beinen gezerrt. Wie dunkel die Straße war, wie schrecklich die Kälte, wie die Kälte des Meeres.
»Aber schau, Mom.« Er deutete durch den Eisenzaun und zog an ihrer Hand. »Da ist der Mann im Garten.«
Das alte Spiel. Sie würde sagen, da sei kein Mann, und sie würden zusammen lachen. Aber doch, der Mann war da, wie er immer da gewesen war – ganz hinten stand er, am Rande des großen Rasens unter den nackten weißen Ästen der Myrte. Ob er Michael an diesem Abend sah? Ja, anscheinend. Auf jeden Fall schauten sie einander an.
»Michael, wir haben keine Zeit für diesen Mann.«
»Aber Mom, er ist da, wirklich…«
Die Mystische Meute des Comus. Die Blaskapellen spielten ihre dunkle, wilde Musik, als sie unter lodernden Fackeln vorübermarschierten. Die Menge drängte auf die Straße. Oben auf den schwankenden Prunkwagen aus Pappmache warfen Männer in glitzernden Satinkostümen und mit maskierten Gesichtern gläserne Halsketten und Holzperlenschnüre unter die Leute, die sich gegenseitig übertrafen, um sie zu fangen. Michael klammerte sich an den Rock seiner Mutter; er haßte das Dröhnen der Trommeln. Glasperlen landeten in der Gosse zu seinen Füßen.
Auf dem langen Heimweg – Mardi Gras tot und vorbei, die Straßen von Abfall übersät, die Luft so kalt, daß der Atem dampfte – hatte er den Mann wiedergesehen; er hatte dagestanden wie zuvor, aber diesmal hatte Michael es sich erspart, etwas davon zu sagen.
»Muß nach Hause«, murmelte er jetzt im Schlaf. »Muß da wieder hin.«
Er sah den langen Eisengitterzaun des Hauses in der First Street, die Seitenveranda mit den losen Fliegengittern. Und den Mann im Garten. So seltsam, daß der Mann sich nie veränderte. In jenem letzten Mai, als Michael zum allerletzten Mal durch diese Straßen gegangen war, da hatte er dem Mann zugenickt, und der Mann hatte die Hand gehoben und gewinkt.
»Ja, geh«, wisperte er. Aber wollten sie ihm denn kein Zeichen geben, die anderen, die zu ihm gekommen waren, als er tot gewesen war? Gewiß begriffen sie doch, daß er sich jetzt nicht mehr erinnern konnte. Sie würden ihm helfen. Die Barriere zwischen den Lebenden und den Toten zerfällt. Komm herüber. Doch die Frau mit dem dichten schwarzen Haar sagte: »Denk daran: Du hast die Wahl.«
»Aber nein, ich hab’s mir nicht anders überlegt. Ich kann mich nur nicht erinnern.«
Er setzte sich auf. Es war dunkel im Zimmer. Frau mit schwarzem Haar. Was trug sie da um den Hals? Er mußte jetzt packen. Zum Flughafen. Die Tür. Die dreizehnte. Ich verstehe.
Tante Viv saß hinter der Tür im Wohnzimmer im Schein einer einzelnen Lampe und nähte.
Er trank noch einen großen Schluck Bier. Dann leerte er die Dose langsam.
»Bitte helft mir«, flüsterte er, aber es war niemand da. »Bitte helft mir.«
Er schlief weiter. Der Wind wehte. Die Trommeln der Mystischen Meute des Comus erfüllten ihn mit Furcht. Waren sie eine Warnung? Warum springen Sie nicht? fragte die niederträchtige Hausdame die arme, verängstigte Frau am Fenster in dem Film Rebecca. Hatte er die Kassette gewechselt? Er konnte sich nicht erinnern. Aber wir sind jetzt in Manderley, oder? Er hätte schwören können, daß es Miss Havisham gewesen war. Und dann hörte er, wie sie Estella ins Ohr flüsterte: »Du kannst ihm das Herz brechen.« Pip hörte es auch, aber er verliebte sich trotzdem in sie.
Ich bringe das Haus in Ordnung, flüsterte er. Lasse das Licht herein. Estella, wir werden ewig glücklich sein.
Tante Viv stand neben ihm im Dunkeln.
»Ich bin betrunken«, sagte er.
Sie drückte ihm ein kaltes Bier in die Hand. Welch ein Schatz.
»Gott, das schmeckt so gut.«
»Da ist Besuch für dich.«
»Wer? Eine Frau?«
»Ein netter Herr aus
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