Hexenstunde
gute Zeiten und gute Dinge bevor.
Das also war Michaels Leben, ein Leben, das in jeder Hinsicht jetzt vorüber war, denn am 1. Mai war er ertrunken und zurück gekommen, geplagt, besessen, unablässig von den Lebenden und den Toten schwafelnd, außerstande, die schwarzen Handschuhe abzulegen, vor lauter Angst vor dem, was er vielleicht sehen würde – der großen Flut sinnloser Bilder-, und vor den starken emotionalen Eindrücken selbst derer, die er gar nicht anrührte.
Volle dreieinhalb Monate waren seit jenem furchtbaren Tag vergangen. Therese war fort. Seine Freunde waren fort. Und jetzt war er ein Gefangener des Hauses in der Liberty Street.
Er hatte seine Telephonnummer geändert. Er beantwortete die Post nicht, die er bergeweise erhielt. Tante Viv verließ das Haus durch die Hintertür, um die wenigen im Haus benötigten Dinge zu kaufen, die man nicht liefern konnte.
In zuckersüßem, höflichem Ton wimmelte sie die wenigen Anrufe ab. »Nein, Michael ist nicht mehr hier.«
Er lachte jedesmal, wenn er es hörte. Denn es stimmte. In der Zeitung hieß es, er sei »verschwunden«. Auch darüber mußte er lachen. Etwa alle zehn Tage rief er Stacy und Jim an, um ihnen zu sagen, daß er noch am Leben sei, und legte dann wieder auf. Er konnte es ihnen nicht verdenken, wenn es ihnen egal war.
Jetzt lag er im Dunkeln auf dem Bett und betrachtete wieder die vertrauten alten Bilder aus dem Film Große Erwartungen auf dem stummen Fernsehschirm. Eine geisterhafte Miss Havisham im zerschlissenen Hochzeitsgewand redete mit dem jungen Pip – dargestellt von John Mills -, als dieser nach London aufbrechen wollte.
Wieso verschwendete er hier seine Zeit. Er sollte nach New Orleans reisen. Aber im Moment war er dazu zu betrunken. Zu betrunken, um auch nur die Flughafenauskunft anzurufen. Außerdem bestand die Hoffnung, daß Dr. Morris ihn anrufen würde, Dr. Morris, der seine Geheimnummer kannte, Dr. Morris, dem er seinen einen, seinen einzigen Plan anvertraut hatte.
»Wenn ich mit dieser Frau Kontakt aufnehmen könnte«, hatte er zu Dr. Morris gesagt, »Sie wissen schon, mit der Seglerin, die mich gerettet hat… wenn ich nur meine Handschuhe ausziehen und ihre Hände halten könnte, während ich mit ihr rede – ja, dann könnte ich mich vielleicht durch sie an etwas erinnern. Wissen Sie, wovon ich rede?«
»Sie sind betrunken, Michael. Das höre ich.«
»Kümmern Sie sich nicht darum. Das ist geschenkt. Ich bin betrunken, und ich werde betrunken bleiben, aber hören Sie, was ich zu sagen habe. Wenn ich noch einmal auf dieses Boot kommen könnte…«
»Ja?«
»Wenn ich auf dem Bootsdeck knien und die Planken mit meinen bloßen Händen berühren könnte… Sie wissen schon, die Planken, auf denen ich gelegen habe…«
»Michael, das ist Wahnsinn.«
»Dr. Morris, rufen Sie sie an. Sie können sie erreichen. Und wenn Sie sie nicht anrufen wollen, dann geben Sie mir ihren Namen.«
»Was soll das heißen – rufen Sie sie an? Soll ich ihr etwa sagen, Sie wollen auf ihrem Boot umherkriechen und es nach mentalen Vibrationen abtasten? Michael, sie hat ein Recht darauf, von solchen Sachen verschont zu bleiben. Vielleicht glaubt sie gar nicht an die Geschichte von der übersinnlichen Wahrnehmung.«
»Aber Sie glauben doch daran! Sie wissen, daß es funktioniert!«
»Ich möchte, daß Sie wieder ins Krankenhaus kommen.«
Michael hatte wütend aufgelegt. Keine Spritzen mehr, keine Tests mehr, nein danke. Wieder und wieder hatte Dr. Morris zurückgerufen, aber seine Botschaft war immer die gleiche gewesen: »Michael, kommen Sie her. Wir machen uns Sorgen um Sie. Wir möchten Sie sehen.«
Und dann schließlich das Versprechen: »Michael, wenn Sie nüchtern werden, will ich’s versuchen. Ich weiß, wo die Lady zu finden ist.«
Nüchtern werden. Er dachte darüber nach, als er jetzt hier im Dunkeln lag. Er tastete neben sich nach der kalten Bierdose und riß sie auf. Ein Bierrausch war der beste Rausch. In gewisser Weise war es wie nüchtern sein, denn er hatte ja nicht etwa einen Schuß Wodka oder Scotch in die Dose geschüttet, oder? Das war erst echtes Saufen, der Suchtrausch – und er sollte es wohl wissen.
Tante Viv sagte: »Iß etwas zu Abend.«
Aber er war in New Orleans und wanderte durch die Straße des Garden District, und es war warm, und oh! der nächtliche Duft des Jasmin. Sich vorzustellen, daß er ihn all die Jahre nicht gerochen hatte, diesen süßen, schweren Duft, daß er nicht gesehen hatte, wie
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